Inhalte der aktuellen Ausgabe (Nr. 36, Oktober 2008) - ab sofort österreichweit sowie im deutschen Bahnhofsbuchhandel erhältlich - www.ballesterer.at

Schwerpunkt: Italiens Fußball in der Krise

Kranker Calcio
Vom Aufstieg Berlusconis bis zur Reformunfähigkeit nach "Calciopoli"
Direktheit und Geduld
Verbandsvize und Ex-Milan-Star Demetrio Albertini im Interview
Lombardischer Gegenpol
Albinoleffe fehlt es nicht an Erfolg, aber an Fans
Livornos rosige Zeiten
Fotorückblick auf die linke Bastion der Serie A
Außerdem in der neuen Ausgabe:
Im Osten gehen die Ränge rauf
Austria Wiens Osttribüne setzt neue Maßstäbe
Kein Bier im Dress
Wie das "Boozing" aus der Premier League verschwand
Bauen für Blatter
Kein Fairplay bei der Errichtung WM-Stadien in Südafrika
Mondlandung auf den Färöern
Songwriter Teitur Lassen und sein 1:0 gegen Österreich
Der graue Panther aus Steinberg
Ladislaus Gallos wirft sich auch mit 71 noch nach dem Ball
Dr. Pennwiesers Notfallambulanz
Die angeknackste Rippe
Groundhopping
Schwedische Playboys, finnischer Jari, korsisches Autokino

Partytime: 17.10. im Innsbrucker PMK, 23.10. am Badeschiff Wien

Foto: Krennhuber
Fotos: Krennhuber
Fotos: Krennhuber
Fotos: Krennhuber

Neapel, eine Woche vor Saisonauftakt: Die Sommerferien sind auf ihrem Höhepunkt. Wer kann, hat die engen Gassen der Stadt hinter sich gelassen und sucht Abkühlung am Strand. Pizzerien und Bars haben geschlossen, und auch hinter der Auswärtsfahrt der Napoli-Fans zum Match gegen Roma steht ein Fragezeichen. Neunmal waren sie in der vergangenen Saison von Spielen in der Fremde ausgeschlossen worden. Wieder sieht es nicht allzu gut aus, gilt das "Derby del Sole" doch als Hochrisikospiel.

Seit dem Ende der Fanfreundschaft zwischen den beiden Kurven 1987 ist diese Begegnung von einer starken Rivalität geprägt. Auch das letzte Aufeinandertreffen der beiden Fanlager im Mai 2008 führte zu einem unrühmlichen Ende: Nachdem die Napoletani in einer Raststätte nahe dem toskanischen Montepulciano versucht hatten, Roma-Fans zu verprügeln, wurden Teile der Gruppe noch auf der Autobahn verhaftet und mit langen Stadionverboten belegt. In Neapel spricht man davon, dass die unterlegenen Romanisti einen Tabubruch begangen und ihre Kontrahenten bei der Polizei verpetzt hätten. Die neuesten Nachrichten verheißen ebenfalls nichts Gutes: Der Kartenverkauf wurde ausgesetzt und die Roma-Fans haben im Supercup-Finale schon auf die Begegnung gegen Napoli hingewiesen. Mit einem Transparent, auf dem die Moltepulciano-Vorwürfe zurückgewiesen und ein "fairer Kampf" angeboten wurde.

Unter Schlagstöcken zu den Karten

Umso überraschender lässt das neu eingerichtete Fußball-Sicherheitskomitee CASMS am Montag Auswärtsfans im Olympiastadion zu. Tags darauf erklärt der SSC Napoli, dass die Karten am Freitag und Samstag ab 10 Uhr direkt im Stadion und unter strengen Auflagen verkauft werden: Die 28 Euro teuren Tickets erhält man nur persönlich unter Vorlage eines Personalausweises.

Das UEFA-Cup-Rückspiel gegen die albanische Mannschaft Vllaznia am Donnerstag steht ganz im Zeichen des Matches gegen Roma. Kapitän Paolo Cannavaro ruft die Fans zu einer "friedlichen Auswärtsfahrt" auf. Auf dem Weg zum Stadion bekommen wir ein Kommuniqué der Ultras aus der Curva A in die Hand gedrückt. Darin werden die Fans aufgefordert, geschlossen mit dem Zug anzureisen und sowohl Match- als auch Zugkarte mitzubringen.
Vor dem San Paolo werden Schals mit dem Abbild des brennenden Kolosseums und dem Slogan "Roma merda" verkauft. Während des lockeren 5:0 gegen das Team aus Shkodër intonieren die Napoli-Kurven zur Melodie von "Volare" immer wieder: "Romano oohh, bastardo oooooohh".

Am folgenden Tag zweifelt die Gazzetta dello Sport aufgrund der Gesänge bereits an der Entscheidung des Sicherheitskomitees. Wir haben andere Probleme: Es gilt, an eines der 3.600 Auswärtstickets zu gelangen. Um halb zehn warten bereits rund 500 Fans an den Eingängen der Curva B. Bis sich das Tor nach einer Stunde zum ersten Mal öffnet, füllt sich die eingezäunte Box auf drei Etagen: zu ebener Erde mühen sich die Fans im Slalom durch die Wellenbrecher, auf den Gestängen rückt die zweite Reihe stehend vorwärts, darüber hängen die Kletterer auf dem Zaun.

Der sehr enge Körperkontakt wird Einzelnen zu viel, über den Zaun klettern sie zurück ins Freie. Der Rest erträgt die Anstrengungen mit erstaunlicher Gelassenheit. Mit der es aber sofort vorbei ist, wenn die von Polizisten mit Schlagstöcken begleiteten Ordner zum Gitter schreiten, um es einen Spalt zu öffnen. Nur etwa 20 Fans werden durchgelassen. Der freiwerdende Platz in der Schlange bietet Gelegenheit für rücksichtslose Überholmanöver, wobei vor allem beleibtere Fans ihren Körper gnadenlos einsetzen. Gröbere Verletzungen bleiben aus, nur einmal muss ein lädierter Fan von den Ordnern hineingeholt werden. Extra öffnet sich das Tor, das nach einem Schaden zwischenzeitlich von Stadionarbeitern repariert werden muss, nach zweieinhalb Stunden auch für das einzige Mädchen, das sich der Macho-Tortur stellt.

Nach vier Stunden erreichen wir das Ziel. Einmal unter den Schlagstöcken durchgetaucht, trennt uns nur noch eine mehrfache Ausweiskontrolle vom Ticketkauf. Überstanden hat das Warten auch ein uniformierter Botendienst-Mitarbeiter. Stolz zeigt er auf seinem Pocket-Computer, welche Aufträge er bereits hat sausen lassen, um Napoli nach Rom zu begleiten. In Dreiergruppen werden wir zum Kartenschalter vorgelassen, wo eine elektronische Überprüfung verhindern soll, dass Personen mit Stadionverbot zu Karten kommen.

Jetzt gilt es nur noch, den richtigen Zug für die Anreise herauszufinden. Im Sitz der Ultras der Curva B in Fuorigrotta erfahren wir die Abfahrtszeit und werden noch einmal darauf hingewiesen, eine Bahnkarte zu kaufen und in Rom vorsichtig zu sein. Am Bahnhof Campi Flegrei lösen wir ein Ticket für die erste Klasse des IC Plus 520 mit Planabfahrt um 9.24 Uhr. Die zweite Klasse ist ausgebucht.

Touristen im Spezialzug

Am Sonntag herrscht um 8.30 Uhr schon reges Treiben auf der Piazza Garibaldi vor dem Bahnhof Neapels. Alle Arten von Ultras laufen herum - von der aufgeregten "Gioventù" bis zu den abgebrühten Routiniers im Fred-Perry-Polo. Sie decken sich ein mit Wasser und Essen, trinken Kaffee in einer der heruntergekommenen Bars. Eine Gruppe ruft per Flugblatt dazu auf, es den Römern zu zeigen. Wird es also doch ein Kriegszug? Außer dem Flugblatt deutet nichts darauf hin: Die Lage vor dem Bahnhof ist ruhig, und die zahlreichen Polizisten lehnen entspannt an ihren Einsatzwägen.

Im Inneren des Bahnhofsgebäudes sieht es schon etwas anders aus. Die Polizei hat den Bahnsteig abgesperrt und lässt nur Reisende durch, die sie nicht als Fußballfans identifiziert. Einige hundert Ultras wedeln mit ihren Fahrscheinen, werden aber vorerst abgewimmelt. Wir geben uns als Touristen aus und schlüpfen durch die Polizeibarriere. Ganz dicht dürfte die Sperre ohnehin nicht sein, im Zug mischen sich schon Ultras und "normale" Fahrgäste. Dass die geplante Abfahrtszeit verstreicht, verwundert niemanden. Der Großteil der Fans erwartet die Abfahrt am Bahnsteig - rauchend, redend, gestikulierend. Ein fünfjähriger Passagier, der mit seiner Oma unterwegs ist, hat in den Ultras die perfekten Spielkameraden gefunden und wird von ihnen mit Stimmenimitationen bei Laune gehalten.

Inzwischen ist es halb elf, und die Aufregung nimmt merklich zu. Immer wieder kommt es zu größeren Umgruppierungen auf dem Bahnsteig. Die Ursache dafür bleibt uns ebenso verborgen wie die Gründe für die Verzögerung der Abfahrt. Von den Verhandlungen zwischen Neapels Polizeichef und den Fans sowie angeblichen Angriffen auf die Schaffner erfahren wir erst im Nachhinein. Durchsagen an die Reisenden bleiben aus. Erst um 11.15 Uhr sieht sich die Eisenbahngesellschaft Ferrovie dello Stato zu einer Information für die Zugreisenden veranlasst. Ein nervöser FS-Mitarbeiter kommt ins Abteil und empfiehlt allen Nicht-Fußballfans, auf andere Verbindungen auszuweichen, weil er nicht sagen könne, wann der Zug abfährt. Die meisten Reisenden kommen der Aufforderung nach, aus dem Zug wird quasi ein "treno speciale". Das Rauchverbot fällt, die Warterei geht weiter.

Auftritt in der Bahnhofshalle

Kurz vor 12 Uhr kursieren Gerüchte, der Zug werde den Bahnhof nicht mehr verlassen. 30 Minuten später - drei Stunden nach der planmäßigen Abfahrt - setzt er sich dann aber doch noch in Bewegung. Die Abteile sind jetzt zum Bersten voll, mehrere Personen teilen sich einen Quadratmeter. Ein Ultra nimmt auf dem Tisch zwischen unseren Sitzen Platz, der nächste auf der Rückenlehne, die Jüngeren schwingen sich in die Gepäckablage. Am Gang drängt sich der Rest, an ein Durchkommen zur Toilette ist nicht zu denken.

Die Stimmung hat sich dennoch gebessert. Die Aussicht, das Spiel vielleicht doch noch zu sehen, lässt die elende Warterei vergessen. Joints machen die Runde. Doch das High ist schnell durchschritten, nachdem der Zug an allen möglichen Bahnhöfen haltmacht, obwohl niemand ein- oder aussteigt. Immer wieder stehen wir auch auf offener Strecke, einmal sogar in einem Tunnel. Die Klimaanlage fällt aus, binnen weniger Minuten wird das Abteil zur Sauna. Der Zugführer meldet sich übers Mikrofon und gibt die Schuld für die Stopps den Fahrgästen. Er empfiehlt, die Hände von der Notbremse zu lassen. Kurz darauf wird die Lautsprecheranlage gekapert. Einige Burschen haben ihren MP3-Player angeschlossen, jagen den Disco-Remix von Gabriella Ferris Hit "Remedios" durch die Zuganlage und grüßen die zu Hause gebliebene Frau Mama.

Der Uhrzeiger tickt stetig in Richtung 15 Uhr, dem Spielbeginn. Wir werden es niemals zum Anpfiff ins Olympiastadion schaffen. Immer noch zieht die Landschaft des Latium vorbei, ehe wir endlich die ersten Häuser der römischen Vorstädte passieren. Um 15.12 Uhr fährt der Zug in den Bahnhof Roma Termini ein. Alles drückt und schiebt in Richtung der Ausgänge. Im Vorbeigehen sehen wir eine beschädigte Toilette und eine eingeschlagene Fensterscheibe im Zug. Der lange Bahnsteig füllt sich mit einer schier endlosen Masse an Ultras, ihr Frust über die nicht zufällig wirkenden Verzögerungen entlädt sich in einem ohrenbetäubenden Gesang: "Romano oohh, bastardo oooooohh", schallt es durch die Bahnhofshalle, in der Polizisten einen schmalen Kordon freigehalten haben, durch den wir jetzt sprinten - die Galerie und der restliche Bahnhof sind voll mit Schaulustigen und Touristen mit Kameras. Die Napoletani bieten ihnen eine große Show. "Bruciamo la capitale" ("Wir verbrennen die Hauptstadt"), singen sie, es bleibt aber bei der verbalen Aggression, vereinzelt werden Bengalen gezündet.

Draußen springen wir in einen der bereitgestellten Busse, dessen Kapazität bis aufs Äußerste ausgereizt wird. Mit Polizeieskorte setzt sich der Konvoi in Bewegung. Die iPhones werden gezückt und verkünden nichts Gutes. Aquilani hat die Roma in der 29. Minute in Führung geschossen und wird dafür verflucht. Auch der Chauffeur muss einiges über sich ergehen lassen. Als der Bus aufgrund der Überladung in einer Kurve beinahe umkippt, singen die Fahrgäste: "Se facciamo un incidente, muore solo il conducente" ("Wenn wir einen Unfall bauen, stirbst nur du"). Wir nehmen nicht den kürzesten Weg, sondern werden über die abgesperrte Stadtautobahn in Richtung Foro Italico geleitet. Unsere Wasserflasche wird entdeckt und nach sanfter Enteignung in Sekundenschnelle geleert. Flüssigkeit ist rar geworden, seit sechs Stunden gab es keine Möglichkeit mehr, an Nachschub zu gelangen. Kurz vor dem Olimpico ist die Fahrt dann zu Ende. Die Busse stehen im Stau, und die Fans öffnen die Türen. Die letzten paar hundert Meter hinunter zum Stadion werden im Laufschritt bewältigt.

Live im Schlachthof

Vor den Toren stauen sich die Massen. Auf dem von Mauern umgebenen Vorplatz herrscht eine Atmosphäre wie im Schlachthof. 2.000 Menschen müssen sich durch vier weniger als einen Meter breite Öffnungen quetschen. Im Wissen, dass die zweite Hälfte bereits begonnen hat, drängen alle nach vorne. Dass nichts passiert, ist der guten Organisation der Ultras zu verdanken. Von den Mauern aus wird zur Zurückhaltung aufgerufen, sobald die Schieberei zu arg wird. Hinter den Drehkreuzen warten Polizisten mit gezückten Schlagstöcken. Mit erhobenen Händen geht es durch die oberflächliche Kontrolle. Ob die Personalausweise auch mit den auf die Karten gedruckten Namen übereinstimmen, interessiert niemanden. Die aufwendige Kartenausgabe im Vorfeld war also eine nutzlose Schikane, doch es bleibt keine Zeit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.

Wir rennen in den Auswärtssektor. Als wir das Innere des Olimpico keuchend erreichen, zeigt die Matchuhr bereits die 52. Minute an. Die Neuankömmlinge werden von den Individualreisenden, die das Spiel von Beginn an verfolgen durften, kurz begrüßt, dann wird der Support mit erhöhter Lautstärke fortgesetzt. Alle Qualen sind vergessen, jetzt gibt's nur noch eins: die Mannschaft zum Ausgleich schreien. Die Hingabe der Fans sorgt für Gänsehaut.

Auf dem Feld ist ebenfalls einiges los: In der ersten Aktion, die wir mitbekommen, holt sich Napoli-Verteidiger Santacroce eine Verwarnung, vier Minuten später wird er mit Gelb-Rot vom Feld geschickt. Seine Teamkollegen zeigen sich unbeeindruckt, vor allem der slowakische Mittelfeldregisseur Marek Hamsik und Ezequiel "Pocho" Lavezzi bereiten der Roma-Defensive immer wieder Probleme. Der Argentinier schiebt nach einem seiner berüchtigten Dribblings den Ball nur um Zentimeter am Tor vorbei, ehe nach einem Corner der Ausgleich fällt: Hamsik trifft per Kopf erst die Latte, um den Ball im zweiten Versuch über die Linie zu bugsieren.

Die Helden liegen sich vor der Napoli-Kurve in den Armen, der Block gerät in Ekstase. Zu Dutzenden erklettern die Fans die drei Meter hohe Absperrung oder pressen sich gegen das Plexiglas. 3.500 tobende Fans verleihen ihrer Liebe zum Verein Ausdruck und hüpfen zu "Chi non salta è un Romano". Von den Romanisti in der Curva Sud ist nichts zu hören. Es folgt eine Riesenchoreo der Napoli-Ultras mit dem Spruchband "57 giorni in cella, più 5 anni di diffida ..." ("57 Tage in der Zelle und dann fünf Jahre Stadionverbot") und mindestens 100 Transparenten, auf denen "Spie" ("Spion") zu lesen ist - eine Anspielung auf die Vorfälle in Montepulciano. Immer wieder werden Bengalen gezündet: Drei fliegen in Richtung der Roma-Fans in der benachbarten Curva Nord. Das Spiel wogt derweil hin und her, Lavezzi scheitert zweimal an Roma-Schlussmann Doni. Auch auf der anderen Seite gibt es zahlreiche Hochkaräter, doch das Match endet 1:1. Die Napoli-Fans feiern, obwohl es wieder nichts geworden ist mit dem ersten Auswärtssieg bei der Roma seit 15 Jahren.

Prügelnde Cops, ruhige Capos

Nachdem die Mannschaft in den Katakomben verschwunden ist, macht sich Erschöpfung breit im Sektor. Die Leute setzen sich, drehen die nächsten Joints. Wir mustern die Menge: Frauen sind an einer Hand abzuzählen, mit Ausnahme von wenigen älteren Semestern sind die Fans zwischen 15 und 35 Jahre alt. Einige haben die Absperrungen überwunden und versorgen von der Laufbahn aus ihre Kollegen mit Wasser aus dem Feuerwehrhydranten. Flaschen werden hin und her geworfen. Ansonsten gibt es Wasser nur in den Toiletten, die Kioske im Auswärtssektor sind geschlossen.

Wieder beginnt eine Etappe des Wartens. Eine Einsatzabteilung blockiert die Ausgänge. Erst um 18.40 Uhr - fast zwei Stunden nach Matchende - öffnet sich die Polizeikette. Die Busse stehen bereit. Alles deutet auf eine schnelle Abfahrt hin, doch nach ein paar Metern ist schon wieder Schluss. Unter dem Vorwand, dass einzelne Türen nicht geschlossen werden können, weil Fans die Eingänge blockieren, stürmen Polizisten ins Fahrzeug und prügeln willkürlich auf die Passagiere ein. Ein 120-Kilo-Cop schnappt sich den Burschen direkt neben uns und schleudert ihn gegen eine Haltestange. Den nächsten schlägt er mit der Faust ins Gesicht, dann kommt der Schlagstock zum Einsatz. Der Übergriff wird begleitet vom Kommentar "Ihr seid hier nicht in Neapel, wo ihr alles machen könnt", und findet erst ein Ende, als seine Kollegen und die restlichen Fans den Tobsüchtigen zur Mäßigung rufen.

Danach kehrt wieder Ruhe ein. Und als die Motoren der Busse abgestellt werden, ist klar, dass es länger dauern wird. Die stille Post per SMS hat Hochkonjunktur: Freunde in Neapel geben weiter, was sie in den Nachrichten hören. Erste Meldungen über enorme Zugschäden; eine angebliche Messerstecherei mit neapolitanischem Opfer, die sich später als unglücklicher Versuch entpuppt, über den Stadionzaun zu klettern; Auseinandersetzungen am Bahnhof. Wir haben noch keinen Roma-Fan zu Gesicht bekommen, scheinbar wollen sie uns aber doch noch an den Kragen. Von den Napoli-Fans ist keine Aggression mehr zu erwarten: Die Leute sind geschlaucht, ein Hydrant dient als einzige Wasserquelle, die angekündigte Versorgung durch den Zivilschutz bleibt aus. Die Capos rufen dazu auf, am Bahnhof nicht zu randalieren. "Wenn sich irgendwer erlaubt, den Mund aufzumachen, kriegt er es mit mir zu tun", bläut einer der Anführer den Jugendlichen ein.

Dann geht es los, diesmal auf kürzestem Weg, direkt durch die City. Attacken der Roma-Fans bleiben aus, obwohl sie leichtes Spiel gehabt hätten. Denn der Konvoi ist nur von wenig Polizei begleitet und wird immer wieder von Autos und Motorrollern überholt. Als wir um 21.45 Uhr vor Roma Termini vorfahren, ist alles friedlich. Von Straßenschlachten keine Spur, dafür jede Menge Polizei und Fernsehteams: Es kommt zu einigen Drohgebärden der Uniformierten, doch die Menge hält sich an die Losung der Capos. Ein letztes Gedränge. Wer keine Karte hat, kauft eine. Die Kontrollen sind lückenlos. Auf dem Bahnsteig stürzen sich die Fans auf die Automaten - es ist seit Besteigen des Zugs in Neapel vor 13 Stunden die erste Möglichkeit, Essen oder Getränke zu kaufen.

Zwei IC stehen zur Abfahrt bereit. Um 22.30 Uhr fährt der erste ab, 25 Minuten später der zweite. Bevor auch das Bordservice Feierabend macht, kaufen wir noch schnell ein überteuertes, warmes Bier und rufen Pasquale an, einen der Capos der Ultras aus der Curva B. Ob er sich die Strapazen auch angetan hätte, wenn er vorher davon gewusst hätte? "Das ist keine Frage einer angenehmen Reise", sagt Pasquale, "wir werden angetrieben von einer starken Leidenschaft. Ich würde auf jeden Fall wieder fahren." (Text: Jakob Rosenberg und Reinhard Krennhuber, Fotos: Reinhard Krennhuber)