Ehrlich gesagt, mich ödet die bestürzte Fassungslosigkeit, mit der die Wahlerfolge von FPÖ und BZÖ kommentiert werden, inzwischen an. Wer zwei und zwei zusammenzählen kann, hat es schon vor zwei Jahren gewusst: Wenn die rot-schwarze Regierung nicht eine wirklich andere Politik macht als die schwarz-blau-orange, wird sie den Rechts-außen-Parteien in die Hände spielen. Nun ist genau das eingetreten: Parteien, die den Rechtsstaat offen verhöhnen und jede Gelegenheit nützen, alle gegen alle aufzuhetzen, haben fast ein Drittel der Wählerstimmen bekommen.

Kopf in den Sand

Schon vor zwei Jahren haben große Teile der ÖVP-Stammwählerschaft ihre Partei erstmals nicht gewählt, weil sie mit der Politik der Koalition zwischen Schwarz, Blau und Orange in keiner Weise einverstanden waren. Die erstaunliche, völlig irrationale Reaktion der ÖVP bestand darin, zu signalisieren, dass sie stark genug sei, dieselbe Politik auch in einer Koalition mit der SPÖ durchzusetzen. Was für weite Teile der (ehemaligen) ÖVP-Stammwähler ganz verrückt aus_sehen musste, war für die SPÖ-Wählerschaft schlicht katastrophal. Denn wenn etwas noch erstaunlicher und irrationaler war als das „Kopf in den Sand und weiter" der ÖVP, so war es die Tatsache, dass die SPÖ bereit war, dabei mitzutun.

Nach der Wahl 2006 hätte die SPÖ die Chance gehabt, den Wunsch der Menschen nach einer wirklich anderen Politik ernst zu nehmen und eine politische Neuorientierung ohne Wenn und Aber zu fordern. Sie hätte nur auf Symptome achten müssen, die in diese Richtung zeigten. Sogar Personen, denen keine SP-Nähe nachgesagt wird, schienen mit einer solchen Neuorientierung zu rechnen. Ich erinnere mich z.B. an eine öffentliche Diskussion über Bildungs- und Wissenschaftspolitik, die in der Zeit nach der Wahl 2006 stattfand. Georg Winckler, Rektor der Wiener Universität und Wirtschaftswissenschafter, hat damals in einem Nebensatz John Maynard Keynes als den größten Ökonomen des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Aha, dachte ich, nach Jahrzehnten der Verteufelung des Keynesianismus scheint Keynes wieder salonfähig zu werden. Vielleicht stand ja dem Ökonomen Winckler schon vor zwei Jahren vor Augen, dass die politisch-ökonomische Formation des sogenannten Neoliberalismus auf einer immer dünner werdenden Eisdecke manövrierte.

Jedenfalls war im Jahr 2006 die SPÖ auf eine wirkliche Neuorientierung der Politik nicht vorbereitet. Hier liegt eine tiefere und wichtigere Ursache des Scheiterns von Alfred Gusenbauer als in seinem Ungeschick bei den Verhandlungen. Ob die SPÖ auf eine Neuorientierung heute besser vorbereitet ist, steht in den Sternen. Das schnelle Agieren der Volkspartei könnte bedeuten, dass sie den Ernst der Lage begriffen hat - ob sie freilich die Botschaft diesmal verstanden hat, ist eine ganz andere Frage.

Logik des Marktes?

Denn - und das ist die Botschaft dieses Kommentars - es wäre eine verheerende Fehleinschätzung, wenn man glauben würde, nur der „Stil" und „die Streitereien" hätten die Wählerinnen und Wähler genervt. Auch hier ist es sinnvoll, ein kleines Stück zurückzutreten und sich zu erinnern: Die Vertreter der schwarz-blau-orangen Regierung, die 2006 abgewählt wurden, haben nach außen stets Einigkeit demonstriert. Sie sind dabei so weit gegangen, den Ausdruck „Keine Diskussion!" zu ihrem Markenzeichen zu machen. Ich erinnere mich an ein Interview, in dem Minister Bartenstein allen Ernstes verkündete, er sei stolz darauf, dass in wenigen Wochen sehr tiefgreifende Umstellungen politischer und ökonomischer Art durchgeführt worden seien, ohne dass es irgendeine Diskussion zwischen dem Mitgliedern der Regierung gegeben hätte. Nein: Dieser Stil wurde von den Wählerinnen und Wählern bereits 2006 „abgestraft".

Isolde Charim („Was Wähler wirklich wollen", der Standard, 27.9.) hat schon recht: Die Menschen sind nicht politikverdrossen, sie dürsten nach Politik. Das Abschneiden der Rechtsparteien, so verheerend es ist, sollte auch unter diesem Gesichtspunkt betrachtet werden. Es geht um viel mehr als um einen anderen „Stil". Es geht darum, eine andere Politik zu machen als die, die dazu geführt hat, dass das Einkommen eines großen Teils der österreichischen Haushalte seit 1999 stagniert hat. Ist es ein Wunder, dass die Menschen, die merken, dass es für sie immer enger wird, dem Euro die Schuld zuschieben? Und es als Zynismus erleben, wenn ihnen gesagt wird, Österreich sei das Land, das am meisten von der EU-Erweiterung profitiert hat? Was geht einem durch den Kopf, wenn man fast überall, wo gebaut wird, das Logo der größten Baufirma Österreichs sieht und selbst in einer der Subfirmen gearbeitet hat, mit deren Hilfe sie so groß geworden ist? Und in denen seit vielen Jahren Arbeiter zu einem Hungerlohn werken oder auch gar nicht bezahlt werden? Oder wenn man zu einem jener kleineren Unternehmen gehört hat, die längst zugesperrt haben, weil sie bei allen Aufträgen - auch und gerade bei öffentlichen - von eben derselben großen Firma ausgebremst wurden: Sie konnten eben nicht Billigstbieter sein.

Die Menschen glauben nicht mehr, dass es an der Logik des Marktes liegt, wenn politische Bedingungen geschaffen werden, unter denen einer kleinen Minderheit immer unvorstellbarere Mengen an Geld zugeschaufelt werden. Und sie werden wütend, wenn im achtreichsten Land der Welt - oder ist Österreich inzwischen noch weiter vorgerückt? - der Staat angeblich kein Geld mehr hat für Bildung, Gesundheit, Umwelt und das Sozialsystem.

Man vergesse nicht, dass im Wahlkampf der Rechten das Thema des Sozialen eine wichtige Rolle gespielt hat. Und man erinnere sich daran, dass die schwarz-blaue Regierung das Sozialministerium abgeschafft und ein Ministerium für „Arbeit und Wirtschaft" gegründet hat. Ganz nach dem ständestaatlichen Muster wurde damals - unter dem Deckmantel der Harmonisierung - die Vereinnahmung der Arbeitnehmerinteressen unter die der Wirtschaft betrieben. Dass dabei die Arbeitnehmer immer mehr unter die Räder kamen, ist nicht verwunderlich.

Realitätsverzerrung

Verwunderlich ist auf den ersten Blick, dass dasselbe mit großen Teilen der „Wirtschaftsinteressen" geschah. Dass die Sozialpartner in den letzten Jahren wieder eine größere Rolle beanspruchen, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die Wirtschaftspolitik seit 2000 nur einem sehr kleinen Teil der Wirtschaftstreibenden zugute kam.

Es braucht - darin besteht die Botschaft dieser Wahl - einen deutlichen Bruch mit der Orientierung der Politik der letzten Jahre: nicht nur mit dem wirklich schlechten Stil der jetzt abgewählten Regierung. Im Übrigen gilt das nicht nur für Österreich, sondern für viele andere europäische Länder, in denen die Rechts-außen-Tendenzen ähnlich stark sind. Ich bin Herrn Muzicant sehr dankbar, dass gerade er im ORF darauf hinwies, dass diejenigen, die eine der beiden Rechts-außen-Parteien gewählt haben, nicht alle Neonazis sind. Die Stilisierung, die manche Zeitungen betreiben, ist zutiefst verantwortungslos - und genauso realitätsverweigernd wie die Politik der letzten Jahre. Es ist nämlich viel schwerer, sich die Frage zu stellen, was die Ursachen für diese Ergebnisse sind, als sie reißerisch auszuschlachten.  (Elisabeth Nemeth/DER STANDARD-Printausgabe, 1. Oktober 2008)