Madonna auf "Sticky & Sweet" -Welttournee: Lästige biografische Eckdaten schleift sie ab bis hin zum zeitlosen Werk. Stangentanz und Bauerntechno gab es dazu extra.

Foto: STANDARD / Newald
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Wien - Was ist Zeit? Keine Ahnung, aber: Sie zieht sich. Ungefähr nach eineinhalb Stunden schaut man auf die Uhr. Dabei sind erst 30 Minuten vergangen! Madonna liegt leblos auf der Bühne. Mit dem Gesicht nach unten. Schade, denkt man sich, aber: Vorbei ist vorbei. Und man will sich auch ein wenig erleichtert auf den Heimweg machen.

Zu den forschen Viervierteltakten einer neuen Disconummer beginnt aber der Popo von Madonna plötzlich wieder zu zucken. Er strebt himmelwärts. Bald wird sich die in einer roten Baseballjacke, Knieschonern und einem Hauch von Nichts steckende 50-Jährige zum U-Hakerl bäumen und davon singen, dass sie ganz dringend Party machen will. Mit einem neuen tollen Boyfriend, ihren 73 besten Freundinnen und fetziger Musik. Alles, was wir wollen: grober Unfug bei gleichzeitigem Schlaf- und Flüssigkeitsentzug!

Die Frau, die nicht weniger würdevoll altert als ihr rüstiger Kollege Mick Jagger, weigert sich schlicht und einfach abzutreten. Madonna beharrt darauf, dem öffentlichen Bewusstsein als zeitlos modelliertes Abbild ihrer selbst erhalten zu bleiben. Biografie ist etwas für Normalsterbliche. Madonna strebt zur reinen, ihre Geschichte hinter sich lassenden Form.

Mögen alte, von heiterer textlicher Geistlosigkeit geprägte Hits wie Into The Groove oder Music heute von einer anonymen Begleitband (oder einem Tonband) ziemlich derb Richtung Schihütten-Techno gedeutet werden, mag Madonna mit umgeschnallter E-Gitarre den von Abba gefladerten Dorfdisco-Knaller Hung Up etwas bedenklich Richtung Bauernrock brechen: alles egal.

Mut zum würdelosen Altern

Es geht bei Madonna, deren Auftritt auf der Donauinsel mit drei Millionen Euro Gage vergütet wird, längst nicht mehr um Pop als zeitgenössischen Kommentar unseres Lebensgefühls. Es geht um die Präsentation eines unverrückbaren Werkblocks. Dieser mag seit Mitte der 1980er-Jahre zwar Moden erschaffen, verworfen und Images in Videoclip-Geschwindigkeit gewechselt haben.

Madonna definierte dennoch das Selbstverständnis einer heute beinahe vollständig anwesenden Generation 40+, die sich hübsch postmodern niemals auf eine einzige Identität festlegen wollte. Stichwort: Wir wechseln das Weltbild wie andere das Hemd. Befreit von Ideologie und Norm, gerät alles heiter - und alles sei erlaubt wie auch schnell verziehen.

Das ist in diesem zwanghaft jugendlichen Genre relativ neu. Madonna sorgt mit Pornostangen-Discotanz, mit cornettoförmigen Tänzern als Naschwerk auf der Bühne und offenherzig beigestellten Eurythmikerinnen, von denen eine von Madonna tabulos geküsst werden wird, für eines: Der Hörer, dem bald das Sehen nicht mehr vergehen will, wird auf der Wiener Donauinsel mit einem beispiellosen Mut zum würdelosen Altern konfrontiert.

Dass dabei wie etwa in Hung Up teilweise gnadenlos live neben der ursprünglich angedachten Tonart gesungen wird, muss nicht weiter stören. Der Vorwurf, Madonna käme mit ihren überschaubaren Talenten heutzutage nicht über die Vorrunde irgendeines Popstar-Castings, geht ins Leere. Ohne Madonna würde es das Popstar-Genre gar nicht geben.

Madonna hatte mit reichlich Wiener Argwohn und erstaunlichem Willen zum Lästern zu tun. Kann nicht singen, kann nicht tanzen, kann nicht glaubhaft lesbisch zungenküssen, ui, die ist ja alt. Die erste Hälfte ihrer optisch etwas überambitioniert zwischen Chicago 1930, Manhattan 1984 und Beate Uhse 2008 ausgerichteten Performance wurde trotz Evergreens wie Vogue oder Into The Groove nicht intensiver als höflich bejubelt.

Erst der dem Gypsy-Punk und Balkan-Sound verpflichtete Mittelteil mit dem selbst für ihre Verhältnisse reichlich abgeschmackten Ethno-Schlager La Isla Bonita und der rumänischen Volksweise Doli Doli trug das Publikum hin zum Barack-Obama-Werbefilm.

Es folgte das jüngst gefloppte 4 Minutes. Am Schluss DJ-Ötzi-Gospeltechno mit Like A Prayer und auf Madonna umgelegte Heilsbotschaften. Schließlich noch Ray Of Light, Hung Up und Give It To Me. Keine Zugabe. Heim ins Bett. Wir Immerjungen sind zwar rüstig. Der Schlaf vor Mitternacht gilt allerdings als der gesündeste. (Christian Schachinger / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 25.9.2008)