Marius Ivaškevičius: "Wir haben für Russland wohl ein besonderes Gespür entwickelt, mit dem wir besser als die Menschen anderswo erfassen, wenn Russlands Handlungen unkoordiniert und unvorhersehbar werden."

Der Schatten der vergangenen russischen Herrschaft über Litauen.

Foto: privat

Der Krieg in Georgien ist vorbei, die Kaukasus-Krise noch lange nicht. In Litauen haben die Geschehnisse der letzten Zeit besondere Betroffenheit hervorgerufen. Zu lebendig sind die Erinnerungen aus dem Jahr 1991, als Russland die Unabhängigkeit des Landes mit Waffengewalt zu verhindern suchte.

Der litauische Autor Marius Ivaškevičius erklärt im derStandard.at-Interview, warum er "zu neunzig Prozent nicht daran glaubt", dass Russland und die baltischen Länder sich je wieder in einem militärischen Konflikt gegenüber stehen, zu zehn Prozent aber "eben schon". Er erläutert die Hass-Liebe zwischen Russen und Litauern und warum er glaubt, dass litauische Politiker, Strategen und Historiker Formen des Widerstands unter einer möglichen russischen Besatzung ausarbeiten: vom Partisanenkrieg bis hin zu Terrorakten.

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derStandard.at: Die Krise am Kaukasus hat in Litauen große Verunsicherung in der Bevölkerung hervorgerufen. Auch Sie haben Ihre Sorgen in zahlreichen Medien formuliert und die Frage gestellt, wer wohl die nächsten sein würden. Denken Sie, dass Russland für das EU-Land Litauen tatsächlich eine Bedrohung werden könnte?

Ivaškevičius: Wir haben für Russland wohl ein besonderes Gespür entwickelt, mit dem wir besser als die Menschen anderswo erfassen, wenn Russlands Handlungen unkoordiniert und unvorhersehbar werden. Vielleicht sind diese Ängste manchmal auch unbegründet, doch ein falscher Alarm ist besser als bei tatsächlicher Bedrohung zu schweigen.

Der Krieg in Georgien hat die Befürchtungen der Litauer über Russland nur noch verstärkt. Russlands Aggressivität gegen uns und seine anderen unmittelbaren Nachbarn war auch vorher schon unverkennbar, aber sie beschränkte sich auf wirtschaftlichen und verbalen Druck. Nun hat diese Aggressivität in Georgien militärische Gestalt angenommen, und für die russische Regierung ist ja unser Status im Großen und Ganzen derselbe wie der von Georgien: Wir sind das so genannte „nahe Ausland", also das zeitweilige Ausland. Wir sind Länder, die den Niedergang von Russland ausgenutzt und seinen Orbit verlassen haben. Natürlich können wir uns durch die Mitgliedschaft in der NATO und in der Europäischen Union sicherer und mutiger fühlen, doch es gibt keine Garantie dafür, dass uns der Westen im Falle eines Falles verteidigen wird. Warum? Erstens, weil er es noch nie getan hat. Zweitens, weil solche Verteidigungsmaßnahmen zu einem Dritten Weltkrieg führen und vielleicht sogar die Gefahr eines Atomkriegs heraufbeschwören könnten. Würde denn die Menschheit einen solchen Krieg wegen eines oder auch einiger kleiner Völker riskieren? Das ist stark zu bezweifeln. Der Westen denkt rational, Russland dagegen nicht immer. Anders ausgedrückt, der Westen ist prognostizierbar, Russland dagegen nicht. Darin besteht unsere größte Angst.

derStandard.at: Ihr Stück "Madagaskar", das Sie gerade in Russland aufführen, spielt zur Zeit der Unabhängigkeitserklärung von Litauen im Jahr 1918. Die "neuen Intellektuellen" dieser Zeit beraten darüber, was nun mit dem Staat anzufangen sei. Und Ihnen fallen viele skurrile Zukunftsszenarien für Litauen ein. Ist Litauen tatsächlich ein Land mit mehreren Identitäten?

Ivaškevičius: Der Prototyp für den Haupthelden dieses Stücks ist Kazimieras Pakštas, ein litauischer Geopolitiker, den es tatsächlich zwischen den Weltkriegen gegeben hat. Er verbreitete ganz ähnliche Ideen wie mein Protagonist, der behauptet, Litauen sei von großen Völkern umgeben - Deutschland, Polen und Russland - und hätte keine Überlebenschancen. Deshalb müsse nach alternativen geografischen Orten Ausschau gehalten werden für ein Reserve-Litauen, das im Falle einer Okkupation das eigentliche Litauen ersetzen und so das Volk vor dem Aussterben bewahren würde. Der Protagonist findet nach langem Suchen einen solchen Ort in Afrika und versucht, alle litauischen Emigranten dort zu versammeln. Diese Idee ist natürlich utopisch und irreal, aber in der Gegenwart nicht mehr ganz so lächerlich wie noch vor fünf Jahren, als ich das Stück geschrieben habe. Jetzt sagen die Zuschauer nach Aufführungen in Litauen nicht selten halb im Scherz und halb im Ernst, man hätte damals übersiedeln sollen, es war keine schlechte Idee. Es ist nicht leicht, ständig wie auf einem Pulverfass zu leben, offenbar man kann sich daran nicht gewöhnen.

Vor vier Jahren haben wir „Madagaskar" in Wien gezeigt. Es wurde fünf Mal aufgeführt, und schon nach der ersten Vorstellung erschienen in den österreichischen Zeitungen Rezensionen mit ungefähr solchen Überschriften wie „Der Mond wird auf Russland fallen". Ein Protagonist des Stücks, der litauische Botschafter in Paris, präsentiert dem Haupthelden nämlich eine ganz eigene Vision von der zukünftigen Weltordnung: Gott habe ihm offenbart, dass die Hälfte des Mondes auf Russland stürzen und es zerstören würde, wodurch wir im Osten eine lange Grenze mit dem neutralen Mond hätten, den man kolonisieren könne. Der Mond würde keinen Anlass mehr zur Angst vor einer möglichen Aggression liefern. Auf diese Rezensionen hin schickte die russische Botschaft tatsächlich einen ihrer Leute in die Aufführung, der beurteilen sollte, welche politische Provokation die Litauer hier anzetteln. Das erfuhren wir von unseren Diplomaten in Österreich.

Ungeachtet solcher diplomatischen Kuriositäten wird „Madagaskar" aber häufig zu Gastspielen nach Russland eingeladen und ist dort auch schon mehrmals ausgezeichnet worden. Wir sind gerade von einem Gastspiel aus Omsk zurück und fahren im Oktober schon zum zweiten Mal nach Moskau und nach Samara. Die Russen nehmen das Stück an und verstehen es, und das ist ja ein Zeichen dafür, dass wenigstens im Bereich der Kultur unsere Beziehungen weiterhin sehr warmherzig sind.

derStandard.at: Die "Frankfurter Allgemeine" zitierte Sie mit den Worten: "Die russische Propaganda im Fernsehen ist schlimmer als 1991". Die Menschen in Litauen würden sich ängstigen. Was meinten Sie mit Propaganda?

Ivaškevičius: Die russische Propaganda zu zitieren wäre dasselbe wie den Regen zu zitieren. Sie ist ein nicht abreißender Strom. Um das zu verstehen, muss man nur irgendeine einzige Nachrichtensendung auf einem beliebigen Fernsehkanal einschalten ... Das heutige russische Fernsehen ist einseitig, es trichtert den Zuschauern den Gedanken ein, dass Russland von Feinden umstellt ist, an deren Spitze die USA, die baltischen Staaten und Polen stehen. Man ist bestrebt, den Eindruck zu erwecken, dass der Westen Russland isoliert, obwohl es in Wirklichkeit umgekehrt ist: Russland versucht, sich mit allen seinen Handlungen von der westlichen Welt zu isolieren. Selbst im für Litauen blutigen Jahr 1991 gab es in Russland TV-Sender, die die Lage objektiv dargestellt haben, doch solche Sender gibt es jetzt nicht mehr.

Die Litauer sind es von Alters her gewöhnt, zwei Versionen von Russland zu unterscheiden: das eine ist das herrschende, offizielle Russland, das uns gegenüber meistens feindlich und aggressiv ist, das andere ist das Russland des Untergrunds, das uns versteht, Mitgefühl hat und bereit ist, uns zu helfen, wenn es nur reale politische Macht erlangen könnte. Zur Zeit hat man den Eindruck, dass dieses zweite Russland gleichsam verschwunden ist. Als ich in Omsk war, begriff ich, dass es dieses Russland noch gibt, dass es aber allzu stark in den Untergrund gezwungen wurde. Eine Moskauer Theaterkritikerin gestand mir, dass sie sich aufrichtig schämt für das, was heute in Russland geschieht, und ernsthaft erwägt, ins Exil zu gehen. Ihre Wohnung im Zentrum von Moskau, die eineinhalb Millionen Dollar wert ist, würde es ihr ermöglichen, sich in jedem beliebigen westlichen Land anzusiedeln, aber sie denkt vorerst an Kiew oder Vilnius. Von ihr und anderen Gesprächspartnern erhielt ich Adressen von Websites, auf denen sich diese zweite Stimme Russlands artikuliert. Dies hat mich etwas beruhigt.

derStandard.at: Der Krieg in Georgien hat Litauen an die Ereignisse von 1991 erinnert (Russische Waffengewalt nach Unabhängigkeitserklärung, Anm.). Sie erzählten über eine litauische Solidaritätsbewegung mit Georgien. Existiert die immer noch?

Ivaškevičius: Auf den ersten Blick scheinen diese beiden Konflikte einander nicht zu ähneln: 1991 fand in Litauen der Kampf um die Befreiung vom Kommunismus statt, während in Georgien heute ein Krieg um Territorien geführt wird. Doch ihr Wesen ist dasselbe: Russlands Bestreben, seine Grenzgebiete zu dominieren und zu beherrschen. Russland ist wie ein Meer: wenn es an einer Stelle über die Ufer tritt, ist es sehr wahrscheinlich, dass es auch andernorts überschwappt. Und der Kaukasus und das Baltikum waren schon immer die sensibelsten Zonen des russischen - zaristischen oder kommunistischen - Imperiums. Sehr oft wurde das, was zunächst im Kaukasus erprobt wurde, später auch in unserer Region angewandt. Daher ist es ganz natürlich, wenn wir uns mit Georgien solidarisieren.

In der litauischen Presse sind viele Artikel erschienen, die auch die Gegenposition der Ossetinen darstellen. Ich begreife ihren Schmerz über die Geschehnisse in Südossetien und ihre Feindschaft gegenüber Georgien, aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Russland sie schlicht für seine eigenen Zwecke manipuliert. Mag sein, ich irre mich. Ich bin Schriftsteller, kein Politiker.

derStandard.at: Sie haben ein erfolgreiches zweisprachiges Stück geschrieben. Wo sehen Sie die wichtigsten Berührungspunkte zwischen Russland und Litauen?

Ivaškevičius: Dieses Stück handelt von dem für Litauen sehr schlimmen Jahr 1940, von den Deportationen der Litauer nach Sibirien und davon, wie die Litauer dort mit den ortsansässigen Russen zusammen zu leben versuchten. Sie bemühten sich, die ihnen zugefügten Kränkungen zu vergessen und sich in erster Linie auf ihre unmittelbaren Beziehungen mit den Menschen an Ort und Stelle zu konzentrieren. Die litauischen Protagonisten in diesem Stück sprechen Litauisch und die Russen - Russisch. Es wurde unter anderem auch in Russland aufgeführt und dort gut verstanden und gewürdigt, weil die Russen unter dem sowjetischen Kommunismus nicht weniger als wir gelitten haben. Wir stehen uns kulturell sehr nahe, die Litauer haben selbst in Zeiten schärfster Konfrontationen Puschkin, Dostojewskij und Gogol gelesen. Vom Hass zur Liebe liegt zwischen unseren beiden Völkern nur ein einziger kleiner Schritt. Aber unter einer Bedingung: lasst uns in Frieden leben, droht und ängstigt uns nicht, und dann werden wir euch lieben und achten. In Omsk brachte ich einen Toast darauf aus, dass wir nicht mehr Krieg führen müssen. Die russischen Theaterleute meinten, selbst die Möglichkeit eines Krieges sei ganz und gar absurd... Ich erwiderte, dass auch ich zu neunzig Prozent nicht daran glaube. Manche Russen pflichteten mir bei: zu neunzig Prozent ist ein Krieg unmöglich. Es bleiben jene zehn Prozent, die beunruhigend sind.

Wir haben für unsere vierjährige Tochter eine Kinderfrau angestellt - eine Vilniuser Russin. Wir baten sie, ihr Russisch beizubringen. Ich sagte im Scherz: das Kind soll den Feind von innen kennen. Doch im Ernst möchte ich, dass es später einmal die ganze russische Klassik im Original lesen kann, von der auch ich zum Teil geprägt bin. Als Schriftsteller und sogar als Mensch.

derStandard.at: Am 12. Oktober wählt Litauen ein neues Parlament. Wird nationale Sicherheitspolitik nun während der neuen Kaukasus-Krise ein wichtigeres Wahlkampfthema?

Ivaškevičius: Unsere nationale Sicherheit ist jetzt nicht minder wichtig als früher. Russland ist seit langem um Einfluss in der litauischen Innenpolitik bemüht, es finanziert Politiker, die ihm wohl gesonnen sind. Doch die andere Seite dieser Medaille besteht in der Gefahr, dass nun eine Hexenjagd anfangen könnte und das Thema von den Parteien für den innenpolitischen Machtkampf missbraucht wird. Die litauische Rechte ist bereits mit dem Wahlkampfslogan „Stimmt nicht für Verräter" an die Öffentlichkeit getreten. Es kann der falsche Eindruck entstehen, dass alle außer ihr selbst bereit seien, unsere staatliche Souveränität aufzugeben und sich Russland in die Arme zu werfen. Ich denke, solche Emotionen sollten vermieden werden, man sollte sich besser an Analysen und Beweise halten. Das Schlimmste wäre, wenn aus der antirussischen Stimmung ein litauischer Nationalismus und Hass auf die ortsansässigen Russen entstünden, die nicht weniger als wir Litauer unter der jetzigen angespannten Lage leiden.

derStandard.at: Die NATO hat keine Pläne, was die Verteidigung der baltischen Staaten gegen Russland angeht. Ein Thema in Litauen?

Ivaškevičius: Diese Tatsache bestätigt lediglich, dass Russland bislang kein Feind der NATO und der westlichen Welt ist (obwohl Russland selbst die entgegengesetzte Meinung zu bilden versucht.) Ich wiederhole, was ich schon einmal gesagt habe: ich glaube trotzdem eher weniger daran, dass Russland uns überfallen könnte. Aber die Möglichkeit einer solchen Aggression existiert dennoch. Daher arbeiten litauische Politiker, Strategen und Historiker Formen des Widerstands unter einer möglichen Besatzung aus: vom Partisanenkrieg, der unter unseren Umständen praktisch unmöglich ist, bis hin zu groß angelegten Terrorakten, nach dem Vorbild der Basken und Iren. Ich gebe zu, dass sich solche Überlegungen in der zivilisierten Welt, im Europa des einundzwanzigsten Jahrhunderts, unvorstellbar grauenhaft anhören. (Manuela Honsig-Erlenburg, derStandard.at, 25.9.2008)


Aus dem Litauischen: Claudia Sinnig