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Leben mit Krebs heißt Zeit im Spital verbringen, Infusionen, Nebenwirkungen von Therapien aushalten. Statistik und Hoffnung sind aneinander gekoppelt.

Foto: Bernard Annebicque/CORBIS SYGMA

"Neben den Daten unseres eigenen Krebsregisters zeigt nun auch die aktuelle schwedische Studie, dass Österreich trotz des Gejammers hierzulande ein hervorragendes Gesundheitssystem hat", konstatiert Lungenfacharzt Norbert Vetter, Primarius am Pulmologischen Zentrum des Wiener Otto-Wagner-Spitals. Die neue Untersuchung aus Stockholm stelle auch unter Beweis, "dass die immer wieder kritisierte hohe Dichte an bildgebenden Diagnosehilfen wie Röntgen, Magnetresonanz und Computertomografie sowie die ebenfalls kritisierte Verschreibung von modernen, sehr teuren Krebsmedikamenten gewaltigen Sinn habe".

Sündteure monoklonare Antikörper


Wie berichtet, stellen Wissenschafter um Nils Wilking vom Karolinska-Institut in einer Studie über die Verwendung modernster medikamentöser Therapien gegen Krebs Österreich ein sehr gutes Zeugnis aus: Ein Vergleich von 13 EU-Staaten zeigte, dass Österreich bei der Verwendung der neuen Krebsmedikamente bei Aufwendungen pro 100.000 Einwohner mit 3,5 Millionen Euro klar über dem EU-Schnitt von 2,6 Millionen liegt. Gemeint sind sündteure monoklonale Antikörper wie Wachstumsblocker, Angiogenesehemmer (siehe Interview) und andere.

Österreich an der Spitze

Weiters stellten die Schweden nach einem Vergleich internationaler Daten zu bösartigen Erkrankungen fest, dass Österreich in der Früherkennung im europäischen Spitzenfeld liegt - einschließlich der Diagnose des bei Männern rückläufigen, bei Frauen aber stark zunehmenden Lungenkarzinoms. Wilking schreibt in seiner Studie: "Ein Jahr nach der Diagnose leben etwa im Vereinten Königreich noch 30 Prozent der Patienten, nach drei Jahren 18 Prozent und nach fünf Jahren 15 Prozent. In Österreich sind es nach einem Jahr 50 Prozent, nach drei Jahren 40 und nach fünf Jahren 20 Prozent."

Frühe Diagnose entscheidend

Tückisch an der Erkrankung ist zumeist, dass sie zu spät für eine effiziente Behandlung mittels Operation und Nachfolgetherapien diagnostiziert wird. Doch gerade da habe Österreich die Nase vorn: Hierzulande werden immerhin 28 Prozent der Lungenkarzinom-Erkrankungen im kurablen Stadium erkannt, in Irland beispielsweise sind es nur zwölf Prozent.

Humanitäres und nicht ökonomisches Denken

Das gute Abschneiden, vermutet Lungenspezialist Vetter, habe auch mit einem - "derzeit noch" - humanitär und nicht ökonomisch wertorientierten Gesundheitssystem und mit einer in Österreich relativ hohen Fachärztedichte im niedergelassenen Bereich zu tun - Vetter selbst hat eine Praxis samt Kassenvertrag.

Alle Therapieoptionen für Alle

Die Kollegenschaft sei gut vernetzt, würde sich über Diagnostik und Therapieoptionen austauschen, "und wenn ich einem Lungenkrebspatienten in meiner Praxis den Tumor-Wachstumshemmer Erlotinib verschreibe, dann genehmigt das der Chefarzt, und die Kasse bezahlt die Therapie um 3000 Euro pro Monat. Unabhängig vom Alter des Patienten und unabhängig davon, um wie viel Wochen oder Monate sich die Überlebenszeit des Betroffenen dadurch verlängert." Das wisse man individuell ja nie im Voraus, da gebe es nur statistische Durchschnittswerte.

Nicht lange haltbar

Auch der Wiener Onkologe Michael Gnant, Präsident der international viel beachteten Österreichischen Brust- und Darmkrebsstudiengruppe (ABCSG), sieht durch die schwedische Studie einmal mehr bestätigt, dass "Österreich in der Onkologie exzellent aufgestellt ist und allen Patienten ein noch gut finanziertes System der Spitzenmedizin anbietet". Doch werde sich dieses System nicht allzu lange halten lassen, befürchtet der Krebsspezialist. Ein Grund dafür sei das Missverhältnis in der Förderung der klinisch angewandten Forschung.

Unterförderte Krebsforschung

"Die klinische Krebsforschung an Patienten ist in Österreich und der EU unterfördert. In den USA sind 50 Prozent der klinischen Forschung aus öffentlicher Hand finanziert. Der Anteil der öffentlichen Förderung liegt in der EU bei weniger als fünf Prozent, in Österreich noch weniger. Man sagt uns: Ihr Ärzte habt's eh die Pharmaindustrie, tut's euch bei denen andienen." Dabei komme akademische Forschung, die völlig neue Konzepte noch ohne Marktausrichtung austesten kann, völlig zu kurz.

Zunehmend uninteressant

Die mittel- bis langfristige Folge laut Gnant: Die von kleinen, aber äußerst guten Biotechfirmen oder von der Big Pharma erforschten und finanzierten neuen Therapien würden aufgrund des wissenschaftlichen Fortschritts insbesondere in der Molekularbiologie immer spezifischer, individueller und daher für eine in Summe immer kleiner werdende Patientengruppe von Nutzen. Und zwar so lange, bis die Therapeutika zwar verdammt wirksam seien, aber nur noch einen so kleinen Absatzmarkt fänden, dass die Finanziers keine Gewinnchancen mehr sähen und daher die Forschung einstellten. Die Gesellschaft müsse sich überlegen, was ihr Gesundheit wert ist.

"Chemo ist eine dumme Therapie"

Einstweilen, resümiert Gnant, sei speziell in der Onkologie zumindest nach der schwedischen Statistik alles in bester Ordnung. Allein - die Stockholmer Daten ließen eine auch in Österreich traditionelle Therapieform außer Acht, die schleunigst reformiert gehörte: die Chemotherapie.
Die Studie beschreibt nur die Anwendung der modernen Therapeutika. Und diese würden meistens in Kombination mit oder nach Chemotherapie verabreicht. Das sei Standard, weshalb sich die meiste Kritik auch gegen das System richte. "Und ich teile diese Kritik", gesteht Gnant. "Chemo ist eine dumme Therapie: Ich vergifte den Menschen in der Hoffnung, dass er das besser aushält als seinen Krebs."

Zwei gegenläufige Trends

In Österreich verfolge man einen "additiven Ansatz": Was man habe, müsse man verwenden, Neues werde zugegeben. Passe es, werde es als Zusatz übernommen. Dabei gebe es zwei gegenläufige Trends: ein immer breiter werdender Ansatz (etwa Angiogeneseblocker, die die Blutversorgung der Krebszellen verhindern), der die biologische Umgebung des Tumors beeinflusst, und ein zielgerichteter, der nur Krebszellen angreift. "Beeinflussung der Krebsumgebung zeigt in vielen Studien schon bessere Resultate als anderes", erklärt Gnant.

Verzicht auf Chemotherapie

"Aber verzichten Sie auf die obligate Chemo, und nur einmal geht etwas schief, dann werden Sie geklagt, weil Sie nicht nach Standard behandeln", schildert der ABCSG-Chef. Das könne man nur in großen Studien mit Einverständnis der Ethikkommission machen: "In unseren Studien erhalten inzwischen zwei Drittel der Brustkrebspatientinnen keine Chemo. Seit 1988 konnten wir die Todesfälle um ein Drittel senken. Das heißt: jährlich 1800 Särge weniger", sagt Gnant.
In Sachen Chemo gehöre dringen etwas geändert, wenngleich einige Tumorformen ohne Chemo gar nicht zu beherrschen seien.

Länger überleben

In Summe hat die zusätzliche Therapie mit modernen Krebsarzneien einiges verbessert: Die durchschnittliche Überlebenszeit von metastasierten Brustkrebspatientinnen erhöhte sich von zwölf auf 36 Monate, die von Lungenkrebspatienten im Spätstadium von fünf auf zehn Monate und die von metastasierten Dickdarmkrebspatienten von fünf auf 25 Monate. "Man darf aber nicht vergessen, dass dies alles Durchschnittswerte sind", ernüchtert der Doyen der onkologischen Statistik, Christian Vutuc, Leiter der Abteilung für Epidemiologie am Zentrum für Public Health der Med-Uni Wien.

Individuell alles möglich

Sterbe ein Patient am Tag des Therapiebeginns, haue er die Statistik genauso über den Haufen, als lebe er ewig. Dennoch sei individuell alles in dieser Bandbreite möglich, lediglich die Mehrheit pendle sich bei jenen statistischen Werten ein, die Pharma und viele Ärzte als statistische Vervielfachung der Überlebenszeit propagierten. "Die persönliche Betroffenheit eröffnet einen lukrativen Markt", sagt Vutuc.

"Besser auf Urlaub fahren"

Hätte er nur noch sechs Monate zu leben und eine neue Therapie verspräche ihm acht, wenn er dafür in Summe vier Monate im Spital liegen müsse, "dann", sagt Vutuc, "weiß ich, dass ich besser auf Urlaub fahre". Für eine solche Entscheidung sei aber qualitative Aufklärung durch den Arzt notwendig. (Andreas Feiertag, MEDSTANDARD, Printausgabe, 22.09.2008)