Jeweils montags und donnerstags eine Stadtgeschichte Thomas Rottenberg

Es war vergangene Woche. Da stieß J. plötzlich einen Schmerzenslaut aus und ärgerte sich danach noch etwa drei Stunden: Den blauen Fleck am Oberschenkel, meinte er, könne er wegstecken. Aber dass er gerade in jene Falle getappt war, die er Minuten zuvor noch wortreich als „Hightech-Deppenstempel" beschrieben und verlacht hatte, wurmte ihn schon sehr.

Denn J. war gegen einen Hydranten gelaufen. Und dass das Ding da unmittelbar vor ihm aus dem Boden gewachsen war, konnte J. doch nicht behaupten. Es war auch nicht dunkel gewesen. Oder neblig. J. war auch nicht mit verbundenen Augen orientierungslos durch die Innenstadt getorkelt.

Ganz im Gegenteil: J. war als Teilnehmer an einer Produktpräsentation eines neuen Multifunktionshandys des finnischen Handyherstellers durch Wien gelaufen - und hatte sich voller Freude in den Fußgänger-Wegbeschreibungsmodus des Navigationstools vertieft. Und schmerzlich gemerkt, dass Hydranten - neben Hundescheisse, aber da hatten alle Teilnehmer der Schnitzeljagd an diesem Tag einfach Glück - zu den wenigen Stadtmöblierungselementen gehören, die nicht in den Online abrufbaren Karten verzeichnet sind.

Firlefanz

Nicht, dass J. das verlangt hätte. Minuten zuvor hatte er sich nämlich noch über den Firlefanz, mit dem wir da spielten lustig gemacht. Wir waren - aus welchem Grund auch immer - im Fiaker gesessen, hatten uns von Radfahrern überholen und - da sie uns kannten - als Touristen-Simulanten verhöhnen lassen und hatten dabei dem Kutscher erklärt wie „schnell" seine Rosse gerade über den Ring zuckelten. J. hatte währenddessen uns beim betrachten unserer Handys mit seinem Handy fotografiert - und die Bilder umgehend irgendwohin ins Web geschickt. Dort, hatte man uns erklärt, könne jeder live mitverfolgen, wo wir uns gerade befänden und bewegten - und die Bilder stünden binnen Sekunden auch dabei.

J. hatte geknipst und gelacht. Und zwischendurch so oft gefragt, wer - abgesehen von Fuhrparkchefs, Taxiunternehmern, kontrollsüchtigen Eltern oder eifersüchtigen Ehepartnern - all das denn überhaupt und in Echtzeit brauche, dass die netten PR-Leute des Herstellers schon fast gequält lächelten. Aber dann, endlich, hatte das Virus auch auf J. übergegriffen: Als er aufgefordert wurde, ein im soeben geschicktes Bild so zuöffnen, dass die darin gespeicherten GPS-Daten vom integrierten Navi als anzusteuerndes Ziel erfasst werden könnten, leuchteten seine Augen. Denn er erkannte das Potenzial der Anwendung sofort.

Babe-Locator

Schließlich, meinte J., sei er oft genug auf Festivals in Menschenmengen gesteckt - und hätte seine Kumpel um „höchstens eine Armeslänge" verfehlt. Oder aber er habe versucht, sein Freundin zu einem bestimmten Paar Schuhe vor einer bestimmten Auslage zu steuern - und war gescheitert. Und nun könne er auch seinen ewig nach der großen Liebe suchenden Freund dezent zu interessanten Zielpersonen lotsen, die an irgendwelchen Theken festgewachsen sind, ohne dann als Bubenpaar, das fingerzeigend („Ja, die da! Uuuursüß, oder?") ein Mädchen betrachtet, ebenjenes gleich zu verschrecken. Oder ... und so weiter. J. s Augen glänzten - und die Handy-PR-Leute waren glücklich.

Darum war J. ab da auch abgelenkt - und hatte nur noch Augen für das Handy-Display: Wir standen vor dem Babylon (nicht im Kartenmaterial eingezeichnet), als er die Anweisung erhielt, zum Basiliskenhaus zu gehen. J. war aus einer anderen Stadt zum Testen nach Wien eingeflogen worden - aber die Technik setzte auch bei Einheimischen die Ortskenntnis umgehend und vollständig außer Kraft: Als ich in Richtung Riemergasse losmarschierte, rief J. mir ein „Halt, ganz falsch" nach, drehte um und wanderte zur Stubenbastei: Als er den ersten Schritt zu mir machen wollte, hatte das Navi im Fußgängermodus ihm nämlich gesagt, er begäbe sich auf den Holzweg.

Spielzeug

Egal. Schließlich trafen wir einander ohnehin wieder, als J. dann die Wollzeile aufwärts schlich und zum Café Engländer abbog. Er sah uns nicht. und lächelte so glücklich wie ein kleines Kind, das zu Weihnachten das ewige herbeigesehnte Spielzeug auspacken darf. Das Navi hielt er mit beiden Händen fest - und zum Glück passte ein netter PR-Mensch auf, dass J. nicht überfahren wurde.

Und dann passierte es: Der PR-Mensch schaute nach den Autos, J. sah auf das Navi - und plötzlich war da ein Hydrant. J. lief so auf den Wasserspeier auf, dass es wirklich weh tat. J. (und uns beim Hinschauen) - nicht dem Hydranten. Und J. rang ein paar Sekunden nach Luft. Das Handy ließ er nicht fallen.

Von da an hob J. dann doch alle paar Sekunden kurz den Blick vom Display. Und taxierte die Umgebung. Den Rest des Weges in die Schönlaterngasse schaffte er unfallfrei - aber leise fluchend. Und als wir am Ende des Spazierganges die Geräte wieder abgeben mussten, war er gleichzeitig enttäuscht ("so ein schönes Spielzeug") und erleichtert: außer auf das Display hatte er nirgendwohin gesehen. Schließlich waren ja Sehenswürdigkeiten, Geldautomaten und Cafés auch hier verzeichnet und beschrieben. Aber das, was wir da fotografiert und online gestellt hatten, erkannte J. als er sich die Dokumentation des Tages im netz ansah, war spurlos an ihm vorbei gezogen. Dabei hätte er Wien doch ganz gerne auch „in echt" gesehen.(Thomas Rottenberg, derStandard.at, 17. September 2008)