In Anna Kims Roman "Die gefrorene Zeit" geht ein Mann in Momenten der Trauer nicht nur seiner Erinnerung, sondern auch der Sprache verlustig.

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Wien - In einer Zeltstadt vor dem Burgtheater versammelt sich von Freitag bis Samstag wieder eine Riege österreichischer Literaten, um, bei freiem Eintritt, zwischen Büchertürmen und Verkaufsständen gemeinsam eine 24-Stunden-Lesung zu absolvieren. Neben vielen altbekannten Autoren ist Anna Kim eine der zu entdeckenden jüngeren Schriftstellerinnen im 17. Jahr von "Rund um die Burg".

Anna Kim wird im Hauptzelt aus ihrem ersten, nun bei Droschl erschienenen Roman Die gefrorene Zeit lesen (22 Uhr). Eine Ich-Erzählerin macht sich darin mit einem Kosovaren auf die Suche nach dessen im Krieg verschwundener Frau, lernt das Leben in den albanisch-serbischen Konfliktzonen kennen und stößt zwischen den nüchternen Erhebungen des Roten Kreuzes auf persönliche Erinnerungen. Anna Kim, die 1977 in Südkorea geboren wurde und als Einjährige mit der Familie nach Deutschland, dann nach Wien - ihr Vater, ein Maler, unterrichtete dort an einer Kunstschule - kam, geht in ihrem Erzählen, durch den Vater darin geschult, von Bildern aus.

Die Bilderspur hieß denn auch ihre erste Veröffentlichung (2004 bei Droschl), eine Novelle über das Fremde im Vertrauten und die Beziehung zum malenden Vater. "Es hilft beim Schreiben, wenn man die Perspektive des Fremden einnehmen kann", sagt Kim, die im Buch von Flucht und einer "Rückkehr ins Fremdvertraute" spricht. "Aus dem Gefühl des Fremdseins zum Ich entspringt das Gefühl des Fremdseins zur Welt" - die erzählende Tochter des Malers erlebt in der Bilderspur Innen und Außen als unversöhnlich, der Konsens sei im Bild zu finden.

Bildende Künstler, sagt Kim, hätten den "unglaublichen Vorteil", dass Bilder Gleichzeitigkeit abbilden können, während die Sprache an das "Problem der Linearität" gebunden sei. In der Bilderspur gelang es Kim auf wunderbare Weise, diesem Problem entgegenzuwirken: In ihrem dichten, überquellenden Text erzeugt sie mit Wort- und Syntaxspielen Umkehrbewegungen, Richtungswechsel in den Sätzen, die so Gleichzeitiges zulassen und eine spielerische, lebendige Sogwirkung erzeugen.

"Ich habe versucht, ein Bild auf etwas Elementares zu reduzieren und daraus auf das Wesen des Bildes zurückzukommen und sprachlich wiederzugeben." Die Erzählerin der Novelle findet das Bild als gemeinsame Sprache mit dem Vater, erinnert sich bald nicht mehr an den Klang seiner Stimme, wohl aber an jenen seiner Pinselführung. Von "blind auf der Zunge sein" ist dann die Rede, wenn es um das Bild als Auslöser der Sprache geht.

Verlust der Sprache

Anders verhält sich dies im Roman, der, genau umgekehrt, durch die Sprache, die Gespräche der Suchdienstmitarbeiterin Nora mit Luan, dem Mann aus dem Kosovo, erst Bilder entstehen lässt. Wo Luan die Bildwelten nicht bewältigen kann, diese durch den Schmerz des Verlustes, ein Schweigen überdeckt werden, geht er auch der Sprache verlustig. Was liegt im Bereich des Sagbaren, was sagt der Wortwähler wirklich, wo steckt der Sinn in einem Wort, wenn man es zerlegt - Themen, die Anna Kim in Die gefrorene Zeit präzise erarbeitet.

Für die Recherche dazu ging sie von einem Buch der Gegenstände aus, einem Katalog mit Fotos von Gegenständen, die in Massengräbern gefunden wurden: Ausweise, lose eingesammelte Kleidungsstücke, kleine Dinge, die man in der Hosentasche mit sich trägt. Dieser Katalog habe Kim auf die Spuren dessen gebracht, was das Kriegstrauma für Einzelpersonen bedeute.

In Gesprächen mit Menschen aus dem Kosovo über deren Trauer habe sie eine Grenze kennengelernt, "wo man nicht weiter fragen, weiter sprechen kann." Diese Grenze zu überwinden, zum nächsten Satz vorzudringen sei die wesentliche Erfahrung beim Schreiben gewesen - "eine gewisse Spracharmut zu überwinden."

Von Freitag- bis Samstagnachmittag wird niemand unter Spracharmut leiden müssen: Barbara Frischmuth erzählt Vom Fremdeln und vom Eigentümeln (Fr., 19 Uhr), Franz Schuh liest aus seinen Memoiren (Sa., 14 Uhr), und Robert Schindel liest am selben Tag aus Der Krieg der Wörter gegen die Kehlkopfschreie (15.30 Uhr). Krimi-Leser können am Freitag (20 Uhr) Alfred Komareks Lesung aus Doppelblick besuchen, wer Lyrik schätzt, mag sich auf Evelyn Schlags Sprache von einem anderen Holz einlassen (Fr., 20.30 Uhr). Auf der Suche nach neuer, junger österreichischer Literatur sei neben Anna Kim Sophie Reyer empfohlen, die in der "Erotiknacht" aus Baby blue eyes liest (4.30 Uhr). Und direkt nach Andrea Winklers Auftritt mit Hanna und ich am Samstagmorgen (8 Uhr) liest Thomas Ballhausen aus Liebe und Napalm. (Isabella Hager, DER STANDARD/Printausgabe, 18.09.2008)