Maximilian Gottschlich: "Das gegenwärtig medizinische System des Schweigens und Verschweigens ist unmenschlich."

Foto: Standard/Regine Hendrich

Ingrid Wernhart: "Ganz entscheidend ist Zuhören- können. Meine Grundhaltung ist es, nicht zu bewerten."

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Wie wichtig sind mitfühlende Ärzte für erfolgreiche Behandlungen?
Wie sieht ein intaktes Arzt-Patienten-Verhältnis aus? Maximilian Gottschlich diskutiert mit der Hausärztin Ingrid Wernhart. Das Gespräch moderierte Karin Pollack.


STANDARD: Sie beschäftigen sich seit langem mit der Arzt-Patienten-Kommunikation und unterscheiden vier verschiedene Kommunikationstypen unter Ärzten. Welche?

Gottschlich: Die erste Gruppe sind die Kommunikationsverweigerer. Sie können sich nur schwer ein freundliches oder gar mitfühlendes Wort für den Patienten abringen. Die Vertreter einer "stummen Medizin" sehen im Patienten bloß ein Objekt der Behandlung. Die zweite Gruppe sind die Phrasendrescher. Sie haben sich ein paar rhetorische Tricks und Floskeln zurechtgelegt, mit denen sich die Patienten in ihrem Informationsbedürfnis bequem abspeisen lassen. Dann gibt es die, die mit missionarischem Eifer den Patienten von sich selbst und ihrer medizinischen Sicht überzeugen wollen. Sie lassen keinen Zweifel daran, dass sie das Interpretationsmonopol besitzen. Und schließlich gibt es die verschwindend kleine Gruppe derjenigen Ärzte und Ärztinnen, die bereit sind, sich auch tatsächlich auf die Lebenswirklichkeit ihrer Patienten und deren Gefühle einzulassen. Sie sind leider untypisch für unser weithin gefühlloses Medizinsystem.

STANDARD: Sie sehen jeden Tag Patienten. Wie gehen Sie auf sie zu?

Wernhart: Ganz entscheidend ist das Zuhörenkönnen. Natürlich schaue ich mir an, wie ein Patient das Zimmer betritt, welche Körperhaltung er hat und wie er sich hinsetzt. Meine Grundhaltung ist, nicht zu bewerten, weder Aussehen noch Worte, noch das Verhalten. Es ist wichtig, was und wie jemand von sich erzählt, aber genauso wichtig ist es zu erahnen, was jemand nicht erzählt.

Gottschlich: Ein durchschnittlicher Arzt führt im Laufe einer 40-jährigen Berufslaufbahn mindestens 140.000 bis 160.000 Anamnese-Gespräche. Schon das erste Arztgespräch ist ein Schlüsselmoment in der weiteren Arzt-Patienten-Beziehung. Wenn da etwas schief- läuft, zieht sich das durch die gesamte Patientengeschichte. Natürlich ist das für den Arzt eine große, auch psychische Herausforderung. Denn der Patient kommt als Leidender zum Arzt, als Mensch in Not, und dementsprechend braucht er neben sachlicher Information auch emotionale Zuwendung. Beides wird dem Patienten aber in Spitälern und Ordinationen vorenthalten. Die Menschen fühlen sich nicht nur schlecht informiert, sondern in ihren Problemen auch nicht ernst genommen. Das ist der Grund für die wachsende Flut an Beschwerden an die Patientenanwaltschaft, nicht nur die eklatanten medizinischen Fehlleistungen.

STANDARD: Ärzte argumentieren dann, dass ihre Arbeitsbedingungen ihnen keine Zeit lassen.

Gottschlich: Wenn man Medizin nur noch nach Kriterien der ökonomischen Effizienz bemisst, dann verkommt sie zum seelenlosen Reparaturbetrieb. Abgesehen davon zeigen alle einschlägigen internationalen Untersuchungen, dass positive Kommunikationserfahrungen im Spital zu besseren und schnelleren Heilungsergebnissen führen. Die Arzt-Patienten-Beziehung steht und fällt mit dem Vertrauen. Und Vertrauen ist eine Frage der Kommunikation.

Wernhart: Ein Vertrauensverhältnis zum Patienten baut sich aber langsam auf. Es entsteht über Jahre in vielen Begegnungen, beim Behandeln einfacher Infekte, bei den Vorsorgeuntersuchungen, beim Betreuen ernster Erkrankungen, in vielen Gesprächen und beim Begleiten durch Krisen. Manche Patienten begleite ich auch bis an ihr Lebensende. Ich könnte mir keinen erfüllenderen Beruf vorstellen.

STANDARD: Ist Empathie, also Mitgefühl, für einen Arzt denn nicht anstrengend?

Wernhart: Empathie ist nicht aufwändig. Jede Beziehung, auch die Arzt-Patienten-Beziehung, besteht aus Geben und Nehmen. Meine Patienten geben mir ja auch sehr viel an Wertschätzung und Zuneigung und damit Energie zurück.

Gottschlich: Mitgefühl meint die Bereitschaft, den anderen wirklich in seinen Nöten und Ängsten verstehen zu wollen. Wenn man sich dem anderen gegenüber öffnet, geht man das Risiko ein, selbst verändert zu werden. Und weil nur die wenigsten dazu bereit sind, schützen sie sich mit einer Mauer, und die wird mit der Zeit zur unüberwindlichen Barriere zwischen Arzt und Patient. Das ist auch der tiefere Grund für das wachsende Burn-out-Syndrom unter Ärzten.

STANDARD: Sind mündige Patienten für Ärzte nicht sehr zeitintensiv?

Wernhart: Ja schon, es gibt Patienten, die mit einem Wust an Informationen aus dem Internet und eventuell mit einer selbst gestellten Diagnose in die Ordination kommen, möglicherweise haben sie sogar schon Therapievorschläge. Es ist dann meine Aufgabe, die Unterlagen mit ihnen zu besprechen, eventuell zu relativieren, und manchmal muss ich mein Wissen gegen das des Patienten stellen. Daraus ergibt sich dann selbstverständlich eine Art apostolische Gesprächssituation, denn natürlich will ich den Patienten von dem überzeugen, was ich für richtig halte. Ich kann aber auch gut damit leben, wenn ein Patient oder eine Patientin meine Meinung nicht teilt. Das kommt auch manchmal vor.

Gottschlich: Ärzte tun sich mit mündigen Patienten schwer. Ärzte sehen sich oftmals in ihrem Selbstwertgefühl infrage gestellt.

STANDARD: Viele Hausärzte beklagen, dass Gespräche von den Kassen nicht honoriert würden.

Gottschlich: Warum sollte ein besser bezahltes Gespräch auch ein qualitativ besseres Gespräch sein? Die Qualität eines Gesprächs bemisst sich nicht primär an der Gesprächsdauer. Der Psychoanalytiker M. Balint hat schon gesagt: Fünf Minuten sind ausreichend. Aber in dieser kurzen Zeit muss der Arzt nicht nur körperlich, sondern auch psychisch präsent sein, seine Aufmerksamkeit muss ganz dem Patienten gehören.

Wernhart: Es herrscht aber schon ein krasses Ungleichgewicht zwischen den Geldsummen, die in medizinische Technologie, und jenen, die in ärztliche Gespräche investiert werden. Vertrauensbildung braucht Zeit, die ich mir nehmen muss. Daher kann ich auch nicht so viele Patienten betreuen. Mit weniger Patienten geht sich dann für manche Kollegen die Rechnung nicht aus.

Gottschlich: Das, was man als Beziehungsmedizin bezeichnet, ist vollkommen verlorengegangen. Darunter leiden die Patienten, darunter leiden aber auch die Ärzte. Ich glaube, wir bedürfen dringend einer Art Rehumanisierung des Medizinbetriebs. Dazu gehört, dass die kranken Menschen darin unterstützt und nicht gehindert werden, ihren seelischen und emotionalen Bedürfnissen Ausdruck zu verleihen. Das gegenwärtige medizinische System des Schweigens und Verschweigens ist unmenschlich und unerträglich.

STANDARD: An der Columbia Uni-versity wird narrative Medizin gelehrt ...

Gottschlich: Das ist eine Methode, um Ärzten beizubringen, über Gefühle zu sprechen. Ärzte bekommen literarische Texte und müssen sie dann wiedergeben und dabei besonders auf die emotionalen Aspekte einer Erzählung eingehen. Es ist eine Schulung der emotionalen Wahrnehmung, die es ihnen ermöglicht, dann auch eigene Gefühle zu thematisieren. Ärzte sind den Naturwissenschaften verpflichtet, sind aber in ihrem täglichen Berufsalltag ständig mit Emotionen konfrontiert.

Wernhart: Viele Patienten brauchen einfach jemanden, mit dem sie reden können. Wir leben zwar in einer Kommunikationsgesellschaft, aber da gibt es auch ein großes Schweigen und Einsamkeit quer durch alle Bevölkerungsschichten und Altersgruppen.

STANDARD: Sie kommen also in die Ordination und haben kein körperliches Gebrechen?

Wernhart: Ja, sie haben seelisches Leid, das ich nur manchmal heilen kann. Oft aber kann ich helfen, und trösten immer.