Das Samnauntal ist Teil des einzigen Schweizer Nationalparks - in sechs überschaubaren Etappen von Zernez durch das Val Müstair kommend kann er durchquert werden.

Foto: Robert Bösch, Schweiz

Hier ist die Welt zu Ende, für den Autofahrer jedenfalls. Durchgangsverkehr gibt es nicht, Dreitausender rahmen den Talschluss ein, und der Fahrweg, der hinüberführt ins Tiroler Ischgl, darf nur ganz selten mit einer Ausnahmegenehmigung befahren werden. Samnaun, dieser Name für das Zollausschlussgebiet über dem Oberinntal, deckt sich für die allermeisten mit dem am weitesten im Tal liegenden Ort von eigentlich fünf Samnaundörfern, welcher großteils aus Zollfreiläden und billigen Tankstellen besteht.

Bereits wesentlich weniger Besucher wissen um Homanns Gourmet-Restaurant in Ravaisch, und meist nur durch Zufall kommt ein Fremder in den alten Ortskern von Laret. Er sollte möglichst nicht versuchen, dieses Bilderbuchnest eines Bündner Bergbauerndorfes mit dem Auto zu erkunden, auch wenn die Einheimischen mit überbordenden Heufuhren durch die verwinkeltsten Gassen praktisch immer ans Ziel kommen.

Wirtshaus und dann weiter

Die Pfade zwischen den verwitterten Holzhäusern, zwischen Ställen und aufgestapeltem Brennholz sind schmal, werden hier jäh von Treppen unterbrochen, enden dort unvermittelt bei winzigen Vorgärten. Begegnen sich tatsächlich einmal zwei Autos im Labyrinth, kann es gut sein - so behaupten es jedenfalls spitze Zungen in Samnaun -, dass die Fahrer aussteigen und erst einmal ins nächste Wirtshaus gehen, um zu grübeln, wie sie aus dieser verfahrenen Situation wieder herauskommen.

Die Dorfidylle Laret ist nur ein Aspekt von Samnaun, der erst auf den zweiten Blick auffällt und bewusst macht, wie einseitig das Bild von diesem Hochtal zwischen den Dreitausendern und Zollfrei-Tankstellen ist. Der Weg ins Val Maisas ist ein anderer. Hoch über dem tosenden Wildbach windet er sich dahin, ist nicht beschwerlich, und trotzdem kommen wir nur langsam vorwärts. Warum? Ganz einfach: In einem Hochtal, das sich rühmt, 900 verschiedene Bergblumenarten aufweisen zu können, müssen wir doch immer wieder staunen.

Am nächsten Tag zieht es uns zu den Wasserfällen im Val Musauna. Das Tal ist weiter, offener und dadurch etwas lieblicher als das Val Maisas. Wie alle Täler und Gipfel hier oben trägt auch dieses Tal einen romanischen Namen, auch wenn die Bevölkerung heute das Idiom des Unterengadin nicht mehr spricht. Manchmal kommen Mountainbiker auf dem Weg daher, das dichte Routennetz im Samnauntal ist heute ihre gemeinsame Sprache. Einmal im Jahr, Anfang August, wird hier der Iron-Bike ausgetragen, das angeblich härteste Mountainbike-Rennen der Welt. Bis zu 900 Fahrer mühen sich dann auf dem 79 Kilometer langen Parcours von Ischgl nach Samnaun und zurück über mehrere tausend Meter Höhenunterschied.

Dass alle bisherigen blumigen Umschreibungen einer sehr reichen Fora nur eine Kostprobe waren, erleben wir Tage später, als wir mit der einzigartigen Seilbahn mit Doppelstockkabine von Ravaisch aus zum Alp-Trida-Sattel hinauffahren. Zunächst geht der Blick in den Talkessel der Alp Trida tief unter uns, wo sich ein halbes Dutzend Seilbahnen und Sessellifte kreuzen. Sie sind im Sommer nicht alle im Betrieb, aber doch so viele, dass Bergwanderer die Möglichkeiten haben, sich zu Bergstationen bringen zu lassen und dort auf Höhenwegen unterwegs zu sein. Wir entscheiden uns für den Weg zur Alp Bella. Was wir hier an blühendem Reichtum zu sehen bekommen, übertrifft alle Erwartungen: Sechs verschiedene Enzianarten stehen am Wegesrand, Trollblumen blühen, blauer und gelber Eisenhut und immer wieder Orchideen.

Frisch aus der Pipeline

Nach einer guten Stunde sind wir bei der Alp Bella, sie ist die einzige bewirtschaftete Alm von Samnaun, eine Zentralalp, bei der alle Kühe der Samnauner Dörfer betreut und vor allem gemolken werden. Die frische Milch wird danach - man glaubt es kaum - direkt durch eine Pipeline ins Tal befördert zur zentralen Sennerei.

Auf dem Weg hinunter nach Laret am Halbstein vorbei, dem größten in der Landschaft liegenden Felsbrocken der Schweiz, ist die Luft erfüllt von den warnenden Pfiffen der Murmeltiere. Überall sehen wir die Tiere, selbstbewusst und gar nicht weit vom Weg entfernt, stehen sie hoch aufgerichtet vor ihren Bauen. Eine zu rasche Bewegung von uns, und sie sind verschwunden.
Samnaun habe die größte Murmeltierpopulation der Schweiz, erfahren wir dann. Und wahrlich, zählt man die überlebensgroßen Pappkameraden und Plastikfiguren in den Dörfern noch dazu - mal zum Arzt oder Jäger, mal zum Mountainbiker oder Senner gemacht -, wird das schon stimmen. Sie sind es jedenfalls, die in diesem sommers zu oft verkannten Tal nicht nur in freier Wildbahn, sondern auch im Marketing bereits den Ton angeben. (Christoph Wendt/DER STANDARD, Printausgabe, 6./7.9.2008)