Wer wählen gehen will, braucht einen österreichischen Pass - der ist jedoch nicht mehr so leicht zu kriegen wie früher

foto: Standard/Corn

"In diesem Land herrschen Gesetze, die von uns nicht legitimiert sind": Ljubomir Bratic

Foto: derStandard.at/Sterkl

"Mit einem Mal wird ein Teil deiner Identität ausgelöscht": Ruth Sierra-León

Foto: derStandard.at/Sterkl

"Mit unseren Steuerngeldern macht man Wahlen", ärgert sich Ayse Esener*. "Mitzahlen dürfen wir, aber wählen dürfen wir nicht." Während viele ÖsterreicherInnen noch unentschlossen sind, wen sie wählen sollen, kommt bei Zugewanderten Zorn auf: "Man kann seit Jahrzehnten hier leben, und trotzdem nicht wählen gehen dürfen", sagt die gebürtige Türkin. "Das ist doch absurd."

"Im Stuwerviertel gibt es Häuser, wo auf den Wahllisten nur zwei Namen stehen. Dabei leben im Haus dreißig Menschen. Was ist das für eine Demokratie?", fragt Ljubomir Bratic. Der Philosoph lebt seit 24 Jahren in Österreich. Sieben Nationalratswahlen hat er miterlebt, bei keiner durfte er mitstimmen. Jahrelang war er politisch engagiert, parteipolitisch wählbar war er nie: Bratic hat zwar ein unbefristetes Visum in Österreich, aber einen serbischen Pass.

"Gesetze von uns nicht legitimiert"

Zehn Prozent der Bevölkerung haben keine österreichische Staatsbürgerschaft, in Wien sind es fast 20 Prozent. Manche von ihnen sind bei der Nationalratswahl WahlhelferInnen der Parteien, andere verteilen Partei-Flugblätter oder kleben Wahlplakate. Selbst wählen dürfen sie nicht. "In diesem Land herrschen Gesetze, die von uns nicht legitimiert sind", kritisiert Bratic, der nicht versteht, warum Zugewanderte, die seit langen Jahren hier leben, für ihr Wahlrecht noch etwas tun müssen – nämlich die Staatsbürgerschaft wechseln. Viele MigrantInnen wollten nicht "Mitglieder eines zusätzlichen Vereins werden", meint Bratic. Zudem seien sie dadurch, "dass sie hier Steuern zahlen, hier arbeiten, alles beitragen, was auch die anderen Mitglieder der Gesellschaft beitragen", bereits "längst dazu legitimiert", zu wählen und gewählt zu werden. "Warum bedarf es einer Staatsbürgerschaft, wo es um Mitentscheidung geht?", fragt Bratic.

Neuer Pass

"Man teilt Migranten in verschiedene Klassen ein", meint Ruth Sierra-León. "Im Vergleich zu denen, die hier aufgewachsen, aber keine Staatsbürger sind, bin ich Ausländerin. Und wenn ich wieder in meinem Land bin, verliere ich diesen Status." Was die Magistratsmitarbeiterin hier beschreibt, ist ihre gefühlte Identität – denn am Papier ist sie Österreicherin. Vor elf Jahren zog sie wegen einer Beziehung nach Österreich, den Einstieg ins legale Arbeitsleben bezeichnet sie als "langen, mühsamen Prozess". Um vom Leiharbeitsvertrag schließlich in eine geregelte Stelle bei der Post wechseln zu können, beantragte sie die Staatsbürgerschaft. Den kolumbianischen Pass musste sie dafür aufgeben. "Das war absurd – mit einem Mal wird ein Teil deiner Identität ausgelöscht", sagt Sierra-León. Zumindest darf sie nun wählen gehen – ob sie hier bleiben will, weiß sie nicht.

Liberal in Neuseeland

Nicht überall ist das Wahlrecht an die Staatsbürgerschaft gekoppelt. In immerhin zehn EU-Ländern dürfen Zugewanderte ohne EU-Pass im gesamten Staatsgebiet auf kommunaler Ebene wählen. Und in Neuseeland dürfen MigrantInnen schon nach einem Jahr bei Parlamentswahlen an die Urnen. In Österreich, Deutschland und Frankreich, jenen EU-Ländern mit dem höchsten Ausländeranteil an der Wohnbevölkerung, setzt das Wahlrecht eine Einbürgerung voraus – die ist in Österreich jedoch seit März 2006 wesentlich schwieriger zu erreichen als davor.

Wählen? – "Na klar"

Laut einer Umfrage des Sozialforschungsinstituts SORA fordern fast 70 Prozent der MigrantInnen aus Nicht-EU-Ländern mehr demokratische Mitbestimmungsmöglichkeiten; 60 Prozent interessieren sich mehr für österreichische Politik als für die ihres Heimatlandes. Auch Christiane Gnahore, die seit fünf Jahren in Wien lebt, würde "auf jeden Fall" wählen gehen, wenn sie dürfte: "Na klar. Ich lasse ja auch auf der Straße niemand anders für mich sprechen." Den Wahlkampf hat sie soweit mitverfolgt. Wen sie wählen würde? "Rot oder grün."

Slogan im Taschenkalender

Auch Sozialmanagerin Ayse Esener ist im Bilde, was die Wahlslogans betrifft, die markigsten hat sie sich im Taschenkalender notiert. "Kein Deutschkurs ohne Zuwanderung, keine Rechte ohne Pflichten, es reicht", rezitiert sie. Und ergänzt: "Diese Rechte wollen wir erst einmal kriegen." (Maria Sterkl, derStandard.at, 28.8.2008)

* Name d. Red bekannt