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Unauffällige Brillanz: Martina Gedeck in der Titelrolle, Marie Leuenberger als Sarah und Samuel Weiss als Seth Regan in Simon Stephens "Harper Regan".

Foto: AP / Kerstin Joensson

Salzburg - Uxbridge bei London. Provisorische Büros in Containern, schnell errichtete Wohnbauten. Ein zugiger Ort. Ein Ort, der nicht zur Ruhe kommt. Flugzeuge durchkreuzen den Himmel, Durchgangsstraßen die Erde. Fast jeder arbeitet hier im Flughafen. An den Gepäckbändern.

Was ist ein Gletscher? Am Ort der schnellen Bewegung, der Flüchtigkeit. Man lernt von den langsamen, machtvollen Bewegungen der Natur. Die Erde - und auch der Mensch - folgt einem anderen Rhythmus. Lernen für den Geografie-Unterricht. Lernen über Veränderung.

Also Gletscher: Erreicht die Masse der Last (des zu Eis kristallisierten Schnees) eine kritische Dichte, setzt das Fließen der Eisriesen ein. Unaufhaltsam bahnen sich die Massen ihren Weg ins Tal.

Harper Regan heißt der Gletscher, den der englische Autor Simon Stephens in seinem neuen, nach der Protagonistin benannten Stück aus der langjährigen Erstarrung löst. Mit ihrem Mann Seth, der nach Fotografien, die er von zehnjährigen Mädchen machte, als Päderast verurteilt wurde, ist sie aus Manchester ins anonyme Uxbridge gezogen. Dort arbeitet sie seit Monaten ohne freien Tag.

Um die Familie zu ernähren und die Schule der 17-jährigen Tochter Sarah zu finanzieren.

Als ihr Chef ihr untersagt, für zwei Tage ihren im Sterben liegenden Vater zu besuchen, ist es für sie an der Zeit. Zeit für den Aufbruch, den Ausbruch.

Elf Szenen, elf Begegnungen lang dauert die Odyssee der Erfahrungen, durch die der 1971 in Manchester geborene Simon Stephens Harper Regan führt. Eine märchenhaft simple Dramaturgie im eigentlichen Sinn: Lange vor Antoine de Saint- Exupérys Der Kleine Prinz bedienten sich ihrer die Volksmärchen, um ihre törichten Helden zur Weisheit gelangen zu lassen: Hans im Glück, Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen.

Der Beispiele gibt es viele. Am Ende steht - und auch darin bleibt Stephens in Harper Regan seinen Vorbildern treu, nicht weniger als das (stille) Glück des bescheidenen Gehers aus dem Volk.

Fortlebende Gewalt

Schon 2006, in Motortown, hatte Stephens sich dieser Dramaturgie des Reigens bedient. Dort war es der 27-jährige Danny, der nach seiner Rückkehr aus dem Irakkrieg die erlebte Gewalt brutal mordend fortlebt. Stephens selbst bezeichnete Harper Regan als weibliches Gegenstück zu Motortown.

Nahezu unmerklich vollzieht sich die Erkenntnis, die, vereinfacht formuliert, darin liegen könnte, den Vater, den Ehemann, nicht zu idealisieren, ihre Taten anzuerkennen - und dennoch zu lieben. Gleiches aber auch für das eigene Leben einzufordern. Doch wie andere Moralisten des Dramas, wie Jean Genet, wie Heinrich von Kleist, liebt Stephens seine Figuren mit eben jener Großzügigkeit, die die Enge bürgerlicher Moralismen weit genug zurücklässt, um sich je als belehrend vereinnahmen zu lassen.

Für die Bühne aber und die Schauspieler bietet der Theater-Praktiker in seinen hochrealistischen, wortkargen Miniaturszenen wunderbarstes Material. Auch das ist ein Grund für seinen großen Erfolg. Selbst weniger geglückte Begegnungen, unreflektierte Wiederholungen des Schnell- und Vielschreibers fallen hier wenig ins Gewicht.

In Wien waren bereits Motortown (als Gastspiel der Wiener Festwochen, 2006) und Am Strand der weiten Welt (Volkstheater, 2007) zu sehen, beide in der Inszenierung von Ramin Gray, der nun auch Harper Regan in Salzburg als Koproduktion der Festspiele mit dem Schauspielhaus Hamburg in Szene setzte. Schnörkellos-realistisches britisches Schauspieler-Theater.

Bescheidene Kunst

Die Konzentration auf das wunderbar agierende Darstellerensemble wird durch die bescheidene Bühnenkunst Jeremy Herberts zusätzlich nicht abgelenkt, dessen auf offener Bühne umgebaute Sperrholz-Zimmerchen jeder Oberstufen-Aufführung in protestantischen Schulaulen zu Ehre gereicht hätten, hier aber zumindest den Bühnenarbeitern zu einem Schlussapplaus verhalfen.

Ja, die Schauspieler: Die immense Fülle der Rollen wurde auf die schon von Lorenzo da Ponte entdeckte, ideale Zahl von sechs Darstellern, drei Männern, drei Frauen, reduziert, was jedem Akteur mit Ausnahme von Martina Gedeck, die als Harper Regan (fast) pausenlos auf der Bühne präsent bleibt, großzügig Gelegenheit gibt, die eigene Vielfalt vorzuführen.

Etwa Samuel Weiss, der neben Harper-Ehemann Seth auch dem antisemitischen dreißigjährigen Journalisten Mickey glaubhaftes Leben erspielt, die wunderbare Marlen Diekhoff als Harpers abgeklärte Mutter, die Figur stets in der Schwebe haltend zwischen Angriff und vorsichtiger Liebe, die zarte Marie Leuenberger als ihre pubertierende Tochter Sarah.
Brillantes Ensemble

Dass Martina Gedeck sich in dieses brillante Ensemble unauffällig fügte, kann ihrem Spiel als große Qualität angerechnet werden. Ihre Harper reagierte nahezu betonungslos auf die Einflüsse ihrer Partner. Nicht die ei-gene Prominenz in den Vordergrund spielend, nahm Gedeck die Energien der Mitspieler nahezu farblos auf - und bot dem Publikum auf diese Weise die nötige (Leer-)Fläche für die eigenen Projektionen auf die Figur.

Ein bescheidenes, auffallend uneitles Agieren. Schön. (Cornelia Niedermeier, DER STANDARD/Printausgabe, 25.08.2008)