Am Sonntag war es erstmals ruhig. "Azadi, Azadi" - Freiheit, Freiheit, hatten sie in den Tagen zuvor geschrien, die jungen Männer mit den wütenden Gesichtern, die Hausfrauen mit den bunten Kopftüchern und die alten Leute. Die Proteste im indischen Kaschmir hatten sich zum Massenaufstand gegen das ungeliebte Indien ausgeweitet. Am Freitag zogen hunderttausende Muslime durch die Hauptstadt Srinagar, um Freiheit zu fordern. Die Polizei sprach von mindestens 200.000. Es war die größte Kundgebung seit Beginn des Aufruhrs vor zwei Monaten. Am Sonntag verhängte die Regierung dann eine Ausgangssperre, um weitere Demonstrationen zu verhindern. Seit Samstag legt zudem ein Generalstreik große Teile Kaschmirs lahm.

Die Stimmung in der einzigen von Muslimen dominierten Region Indiens ist aufgeheizt. 23 Muslime wurden bei Krawallen von der Polizei erschossen. Erst am Donnerstag starben zwölf Rebellen und drei Soldaten. Viele Kaschmiris sehen Indien als Besatzungsmacht an. Indien soll 500.000 Soldaten in der Region stationiert haben. In Neu-Delhi ist man hochbesorgt. Die Szenen wecken böse Erinnerungen an 1989. Damals hatten Separatisten eine blutige Revolte gegen Indien begonnen, die in den nächsten Jahren danach tausende Leben kostete. Viele Militante sollen damals von Pakistan geschickt worden sein. "Dies ist eine Freiheitsbewegung" , sagt der 27-jährige Salman Ahmed. "Wir werden Indien bekämpfen, bis wir frei sind."

Waffenstillstand seit 2003

In den vergangenen fünf Jahren war es in Kaschmir relativ ruhig gewesen. Selbst Touristen wagten sich in die liebliche Bergregion zurück. Dazu hatte der Friedensprozess zwischen Indien und Pakistan beigetragen, die zwei Kriege um das geteilte Kaschmir geführt hatten. Seit 2003 herrscht an der Grenze ein Waffenstillstand.

Doch der Aufruhr belastet das Klima zwischen den alten Rivalen. Indien wirft Pakistans Geheimdienst ISI vor, die Proteste in Kaschmir anzuheizen und wieder Extremisten nach Kaschmir loszuschicken. Ausgelöst hat die Krawalle der Streit um ein 40 Hektar großes Stück Land. Indische Behörden hatten das Landstück in Kaschmir an Hindu-Pilger übergeben. Das erzürnte die Muslime. Als die Behörden einen Rückzieher machten, stiegen in Jammu die Hindus auf die Barrikaden. Seit dem schaukeln sich Proteste und Gegenproteste hoch. Das Klima zwischen dem hinduistischen Jammu und dem muslimischen Kaschmir, die auf dem Papier einen Bundesstaat bilden, ist vergiftet.

Vergeblich versuchte die Zentralregierung, den Aufruhr zu beenden. Fundamentalisten feuern den Hass an. In Jammu agitieren die Hindunationalisten der BJP. Im Kaschmir gießen muslimische Separatisten Öl ins Feuer. Auch die Waffenruhe wird immer brüchiger. Pakistanische Soldaten feuern immer öfter über die Grenze auf indische Stellungen. Noch haben die Inder nach eigenen Angaben aber nicht zurückgeschossen. (Christine Möllhoff aus Neu-Delhi/DER STANDARD, Printausgabe, 25.8.2008)