Umzug der Maroden: Künstlerdemonstration 1998 in Wien: Seither hat sich die Situation noch verschlechtert

STANDARD/Cremer

Wien - Am 1. Juli 1998, just an jenem Tag, als Österreich erstmals den Vorsitz in der Europäischen Union übernahm, hatschten hunderte Künstler, viele von ihnen als Patienten verkleidet, über den Ring, um auf ihre prekäre soziale Lage hinzuweisen. Der Umzug der Maroden, organisiert von Gerhard Ruiss (IG Autorinnen und Autoren) und seinen Mitstreitern, bewirkte nicht viel: Die soziale Lage hat sich im vergangenen Jahrzehnt, wenn man die Inflation berücksichtigt, sogar „eindeutig" verschlechtert.

Das mittlere Äquivalenzeinkommen (Pro-Kopf-Einkommen) beträgt 1.000 Euro pro Monat. Es liegt damit deutlich unter jenem der Gesamtbevölkerung (1.488 Euro) und nur knapp über der Armutsgefährdungsgrenze (893 Euro). Mehr als ein Drittel (37 Prozent) der Kunstschaffenden verfügt über ein Einkommen unter dieser Grenze. Die Armutsgefährdungsquote der Kunstschaffenden ist damit dreimal so hoch wie in der Gesamtbevölkerung (12,6 Prozent).

Zu diesem herben Schluss gelangen die Autoren Susanne Schlelepa, Petra Wetzel, Gerhard Wohlfahrt und Anna Mostetschnig (L&R Sozialforschung) in ihrer Studie Zur sozialen Lage der Künstler und Künstlerinnen in Österreich. Diese war von Kulturministerin Claudia Schmied (SPÖ) in Auftrag gegeben worden und liegt bereits seit Juni als "Rohbericht" vor. Die Ergebnisse wurden bisher aber nicht kommuniziert.

Wolfgang Zinggl, Kultursprecher der Grünen, vermutet die anstehende Nationalratswahl als Grund für das Totschweigen: "Ich verstehe, dass Claudia Schmied die Fakten nicht veröffentlicht. Denn diese offenbaren die Defizite der Kulturpolitik der letzten Jahre."

Manche wollen aber doch noch vor der Wahl das heiße Thema diskutiert wissen: Dem STANDARD wurde ein Bericht in Kopie zugespielt (160 Seiten, samt Verzeichnissen und Tabellen 263 Seiten).

Laut Volkszählung 2001 sind rund 36.900 erwerbstätige Personen in den Gruppen "Schriftsteller, Bildende und Darstellende KünstlerInnen" und "künstlerische Unterhaltungsberufe" erfasst. Die Studienautoren bemühten sich aber um eine Einschränkung auf alle jene, "die mit professionellem Anspruch Kunst schaffen" und ihre künstlerische Tätigkeit als berufliche Aufgabe sehen.

Sie kamen in ihren Berechnungen auf circa 16.800 Kunstschaffende (ohne Sprecher, Nachtclubmusiker, Clowns und Zauberer), darunter je knapp 5000 Musiker und Bildende Künstler, knapp 4000 Kunstschaffende in der Literatur und knapp 3000 Personen im darstellenden Bereich (Theater und Film). Der Frauenanteil liegt durchschnittlich bei 38,9 Prozent (Musik: 28 Prozent; Literatur und Bildende Kunst: je 45 Prozent).

Die Studie kann man als repräsentativ bezeichnen: Insgesamt konnten 1850 Fragebögen ausgewertet werden. Nur 20,4 Prozent der Kunstschaffenden leben in einem Dorf: Der überwiegende Teil (61,4 Prozent) hat den Lebensmittelpunkt in einer Großstadt und hier vor allem in Wien (43,9 Prozent). Besonders ausgeprägt ist dies im Filmbereich: Annähernd drei Viertel leben in der Bundeshauptstadt. Wien übt also eine große Anziehungskraft aus. Denn nur ein Viertel der Künstler wurde hier geboren.

Knapp 60 Prozent weisen einen vom Geburtsbundesland abweichenden Lebensmittelpunkt auf. Neben dieser Binnenwanderung ist auch die internationale Mobilität relevant. Denn in Niederösterreich wurden 13,4 Prozent der Kunstschaffenden geboren, in der Steiermark 12,6 Prozent, in Oberösterreich 11,9 Prozent - und im Ausland 16,7 Prozent. Österreich hat also eine hohe Attraktivität für Kunstschaffende anderer Länder; dies gilt vor allem für Schauspieler: Jeder Vierte zog zu, jeder Achte aus Deutschland.

Die Meinung, dass Künstler anders leben, wird durch die Studie bestätigt: 45,5 Prozent sind ledig (Gesamtbevölkerung: 30,8 Prozent), 41,2 Prozent befinden sich in einer Ehegemeinschaft (Bevölkerung: 52,8 Prozent), 11,1 Prozent sind geschieden (Bevölkerung: 7,6 Prozent). 38,8 Prozent der Künstlerinnen sind Singles, aber nur 24,3 Prozent der Künstler; Elternschaft tritt relativ spät und vergleichsweise selten ein: Nur 52,5 Prozent der Künstlerinnen haben zumindest ein Kind geboren (weibliche Bevölkerung gesamt: 70,4 Prozent).

Dieser Umstand sei weniger auf die Unvereinbarkeit mit dem Beruf zurückzuführen als viel mehr mit den unsicheren Beschäftigungs- und Einkommensperspektiven. Nur knapp jede und jeder Vierte ist ausschließlich künstlerisch tätig: Drei Viertel der Künstler müssen auch kunstnahen wie -fernen Beschäftigungen nachgehen.

54-Stunden-Arbeitswoche

Im Durchschnitt arbeiten Kunstschaffende 52,1 Stunden pro Woche - und damit so viel wie der selbstständig Erwerbstätige, aber weit mehr als die Gesamtheit der Erwerbstätigen (34,8 Stunden). 35,5 Stunden wenden sie für kreativ-produktive und organisatorische Arbeit auf. Wer ausschließlich künstlerisch tätig ist, arbeitet 47 Stunden. Alle anderen müssen im Durchschnitt 54 Stunden arbeiten; für die künstlerische Arbeit bleiben nur 31,4 Stunden Zeit.

Aufgrund des geringen Einkommens und den immer wieder auftretenden Diskontinuitäten sind finanzielle Schwierigkeiten kaum zu vermeiden. Mehr als 85 Prozent kennen das Problem aus eigener Erfahrung; 65 Prozent sind zu „Einschränkungen im täglichen Leben" gezwungen.

Künstlerinnen trifft es dabei noch härter als ihre männlichen Kollegen: Sie verdienen - wie die Frauen in Österreich generell - um 30 Prozent weniger als diese. Zwei Drittel der Frauen können von ihrem künstlerischen Einkommen nicht leben: Es beträgt weniger als 6.657 Euro pro Jahr.

Zinggl ist ob all dieser Zahlen erbost. "Die angebliche Kulturnation lässt die Künstler im Regen stehen. Das ist ein Skandal, ein ausbeuterischer Skandal!" Er fordert die soziale Absicherung der Künstlerschaft und eine "Umverteilung zugunsten jener, die tagtägliche Kunst und Kultur machen".
"Der Umzug der Maroden" am 1. Juli 1998 bewirkte nichts, die viel kritisierte Künstlersozialversicherung schaffte keine Abhilfe: Die soziale Lage der Künstler hat sich verschlechtert. (Thomas Trenkler /DER STANDARD Printausgabe 22.8.2008)