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Widerspruchsgeist: Bertolt Brecht, undatiert.

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 Nun haben auch die Salzburger Festspiele 2008 an den für Unkundige verstörenden Umstand erinnert, dass der Dichter Bertolt Brecht, seit den späten 1920er-Jahren unverbrüchlicher Parteigänger des Kommunismus, "Lehrstücke" wie Die Maßnahme geschrieben hat.

In Texten wie der Maßnahme finden dramatische Zerreißproben statt. Diskutiert wird unter Zuhilfenahme chorisch-liturgischer Gestaltungsmittel die Frage nach einer "neuen" Moral, die gerade deshalb die Zustimmung aller finden soll, weil sie die bürgerliche Sittenlehre als überholt zurückweist.

Die "neue" Moral ist eine solche, die der Mehrheit der Menschen, mithin also dem "Proletariat" , zugute kommen soll. Man kann Brecht vom heutigen Standpunkt aus getrost vorwerfen, sich in der Vorwegnahme der Mehrheitsverhältnisse geirrt zu haben. Der Glaube an die Revolution war vielleicht illusorisch - das Lehr- wird aber dadurch noch nicht zum Schurkenstück.

Brecht hat, seines begründeten Hasses auf Hitler wegen, der Sowjetunion nur äußerlich bedingungslos die Mauer gemacht. Das Zähneknirschen bekommt mitgeliefert, wer flüchtig im Arbeitsjournal aus der Emigrationszeit nachliest.

Alle diese Umstände - Brecht war immerhin Flüchtling, der sein Theaterpublikum an die Nazis verlorengeben musste! - reichen jedenfalls schwerlich aus, aus einem der größten Dichter des 20. Jahrhunderts im Vorübergehen einen leichtfertigen Parteigänger des Totalitarismus zu machen.

Angeblich "Bestialisches"

Stattdessen regiert in heimischen Rezensionsprosaspalten (auch in dieser Zeitung) eine Empörung, die an eine Nachwirkung des unseligen Brecht-Boykotts denken lässt. "Der böse Brecht, der asoziale", weiß etwa Die Presse zu berichten, habe seine "wohlkonstruierten Lehrstücke" neben "viel Bestialischem" geschrieben. Eine solche Einschätzung ist, vorsichtig gesprochen, durch nichts zu belegen. Weder hat Brecht auf die Opfer vergessen, noch hat er es in späteren Jahren unterlassen, dem Nachkriegssozialismus dessen Borniertheiten anzukreiden.

Nur tat er dies kaum jemals so, dass seine Kritik Wasser auf den Mühlen des "Klassenfeindes" werden konnte. Wenn kommunistische Gesinnung ausreicht, um poetisch im Unrecht zu sein, so hat Brecht durchwegs versagt. Umgekehrt ist es aber schick geworden, Brecht (1898-1956) das Gesinnungsfleisch von den Knochen herunterzureißen, als träte darunter die Poesie blank hervor - als würde überhaupt Dichtung sich von allen ideologischen Zusatzmitteln reinigen lassen, um nur erst in ihrer wahren Bedeutsamkeit und Schönheit gewürdigt werden zu können.

Hölderlin oder Voltaire

Die Schrotgewehrschützen der neuen Brecht-Kritik nehmen eine breite Streuung gerne in Kauf, wenn es gilt, dem Augsburger die eine oder andere moralische Schramme nachträglich zuzufügen. Bereits aus Anlass eines Würdigungsfestivals vor wenigen Wochen meldete sich Erfolgsautor Daniel Kehlmann zu Wort, um Brecht vorzuwerfen, dass dieser gesellschaftlich wirksam habe werden wollen: "ein Hölderlin, der sich danach sehnte, Voltaire zu sein".

Eine solche Einschätzung, die an der heutigen "Wirksamkeit" vieler Brecht-Texte absichtlich und scharf vorbeizielt, muss dem Urheber selbstverständlich unbenommen bleiben. Sie häuft nur die üblichen Klischees auf: Der Poet, der in Versen "die Hirse" erziehen wollte, der zu Stalins Terror schwieg (was so nicht stimmt), der in den Fabeln seiner genialen Stücke "windungsreich" herumgedruckst habe, sei zwar ein toller Dichter gewesen, jedoch auch nicht klüger als der "nächstbeste Stammtischkrakeeler".

Nun wurzelt die Eigenart von Brechts Stücken und vieler seiner Gedichte gerade in der Umschweifigkeit einer Argumentation, die sich von den Verhältnissen ganz real belehren lassen will - und nicht von idealischen Zuschreibungen, die als Masken fungieren, um schnöde, auf Ausbeutung gerichtete Interessen dahinter zu verbergen.

Brechts Dichtung enthält ganz im Gegenteil wunderbare Vorgriffe darauf, wie es sein könnte, wenn Menschen einander wieder als Gleiche begegnen: ihrer unmittelbarsten Sorgen enthoben, darum zu interesseloser Freundlichkeit begabt. In dieser Welt voller Widersprüche hat es Brecht riskiert zu sagen: Lasst uns zeigen, dass Widersprüche überwindbar seien. (Ronald Pohl, DER STANDARD/Printausgabe, 13.08.2008)