Nachdem in den USA die Schutzfrist für Tonträger bereits auf 95 Jahre ausgedehnt wurde, steht jetzt die Europäische Union im Kreuzfeuer der einflussreichen Lobbies der Unterhaltungsindustrie. Derzeit beträgt die Schutzfrist für Tonaufnahmen in Europa noch 50 Jahre. Nun hat aber Charlie McCreevy, Kommissar der Europäischen Union für Binnenmarkt und Dienstleistungen, eine neue Richtlinie angekündigt, derzufolge diese Frist auf EU-Ebene den amerikanischen Verhältnissen angeglichen werden soll.

Schon vor Wochen haben sich aus Protest gegen dieses Gesetzesvorhaben 40 führende Wissenschaftler aus dem Bereich Urheberrecht zu einer gemeinsamen Initiative zusammengefunden und ihre Bednken in einem offenen Brief an an EU-Präsident José Manuel Barroso übermittelt - vergebens, wie sich nun zeigt.

Dabei ist dem Kommissar wohl auch zugute gekommen, dass die Pläne zu dieser Schutzfrist-Anhebung weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit vorangetrieben wurden, obwohl es sich dabei um ein Thema handelt, das alle betrifft: sowohl jene, die Tonträger herstellen als auch jene, die sie konsumieren.

Faktum ist: Die Kosten einer solchen Verlängerung werden von den Konsumenten, den Radio- und Rundfunkstationen etc. und von den Kreativen selbst getragen. Wer hat also ein Interesse an einer solchen Ausweitung? Natürlich die Tonträgerindustrie. Nicht die Künstler und Künstlerinnen, in deren Namen oft argumentiert wird, nicht die Rundfunkstationen, nicht die Plattengeschäfte, nicht die Konsumenten - und wenn man es genau nimmt auch nur ein kleiner Teil der Tonträgerindustrie, nämlich die vier großen und weltweit agierenden Major Labels (Sony/BMG, Warner, Universal und EMI).

Denn gerade diese Labels sind die Rechtsnachfolger von fast allen Tonträgerunternehmen, die in der in Frage stehenden Zeit zwischen 1913 und 1958 aufgenommen wurden. Alle anderen Firmen, die keine Rechte aus dieser Zeit besitzen, haben auch keinen Vorteil durch die retrospektive Fristerweiterung - im Gegenteil, sie werden von einer Neuauflage ausgeschlossen.

Die Lobbyisten der vier Major Labels haben diesen Coup gut vorbereitet. So hat beispielsweise die British Phonographic Industry (BPI) eine Studie bei dem Consultingunternehmen PriceWaterhouseCoopers in Auftrag gegeben, die die nötigen ökonomischen Argumente für die Kommission liefern sollte. Tatsächlich stützt sich Charlie McCreevy vor allem auf diese Unterlagen.

Unabhängige Gutachten, die zu gegenteiligen Ergebnissen kamen (etwa von der Cambridge University für die britische Regierung und vom Amsterdamer Institut für Informationsrecht für die europäische Kommission), wurden einfach übergangen.

Kommissar McCreevy argumentiert, dass eine Ausweitung der Schutzfrist für Tonträger von 50 auf 95 Jahre den Kreativen in zweierlei Hinsicht zugute kommen würde: Zum einen, da jene Künstler/innen, die bereits vor mehr als 50 Jahren Platten aufgenommen hatten, jetzt in ihrer Pension plötzlich von den Geldflüssen getrennt würden und zum zweiten, da die Industrie durch eine Ausweitung mehr Einnahmen generieren könnte, die sie ihrerseits wieder in junge Talente investieren könnte.

Beide Argumente halten einer kritischen Betrachtung allerdings nicht stand. Es ist hinlänglich bekannt, dass (hier gibt es von EU-Mitgliedsstaat zu Mitgliedsstaat leichte Schwankungen) etwa zehn Prozent der Interpreten 80% bis 90% der Einnahmen verdienen. Legt man sein Augenmerk auf den Median (das mittlere Einkommen), so erhalten typische Interpreten aus der Verwertung von Tonaufnahmen weniger als 300 Euro im Jahr. Eine Summe, die wohl kaum als Pension bezeichnet werden kann. Der Großteil der Einnahmen würde wiederum einigen wenigen Bestverdienern zufallen, die bereits 50 Jahre profitieren konnten.

Auch das Argument, dass die Industrie die zusätzlichen Einnahmen in junge Talente investieren würde, ist angesichts der bisherigen Praxis wenig glaubwürdig. Das Urheberrecht ist zwar ein Anreiz, kreativ zu arbeiten, eine Verlängerung der Schutzfrist im Nachhinein kann sber logischerweise keine Auswirkungen auf das Verhalten der Kreativen im Zeitraum von 1913 bis 1958 haben. Gewinne, die durch nachträgliche Verlängerungen erzielt werden, sind so genannte "windfall"-Gewinne, also Gewinne, die einem unvorhersehbar einfach in den Schoß fallen. Bezahlen werden diese zusätzlichen Gewinne allerdings alle Konsumenten so wie Radiostationen und andere Multiplikatoren.

Völlig absurd wird die Argumentationskette aber vor allem an einem Punkt: Laut MccReevy soll eine Verlängerung der Schutzfrist keine Kosten verursachen, weil sich die gesetzliche Änderung nicht auf das Preisniveau für Tonträger auswirken würde. Es ist jedoch das Ziel der Schutzrechte, die exklusive Verwertung zu garantieren, was zur Folge haben müsste, dass Preise über dem Marktpreis erzielt werden können.

Die Behauptung, dass sich eine Verlängerung nicht auf das Preisniveau auswirke, entzieht der Maßnahme gleichzeitig jede Berechtigung. In diesem Fall wäre auch das Ziel höhere Einkommen für ältere Interpreten zu schaffen oder höhere Gewinne zu generieren, die in künftige Generationen investiert werden könnten, nicht zu erreichen.

Und noch eine letzte Bemerkung: Mit einem Exklusivrecht von 50 Jahren ist die Plattenndustrie bereits jetzt sehr gut bedient, zumal diese Schutzmarke weitaus höher liegt als in jeder anderen forschungs- und entwicklungsintensiven Branche. Es kann nicht die Aufgabe der Europäischen Kommission sein, auf Kosten der Konsumenten und auf Kosten von Kreativität und Innovation die Umsätze einiger weniger Firmen in die Höhe zu treiben. (DER STANDARD, Printausgabe, 18.7.2008)