Das „Ringelspiel" von Brusio ist keineswegs der einzige Garant für den dosierten Endorphinausstoß, wenn die Berninabahn die Alpen überquert.

Foto: swiss-image.ch/Juerg Stauffer

Eben ist unser Zug noch im Bahnhof von Bergün gestanden, jetzt, nur ein paar Minuten später sehen wir das Dorf schon tief unter uns liegen. Es ist, als ob der Bernina_express wie auf einer Wendeltreppe höher und höher steigen würde. Hinein in den einen Tunnel und wieder heraus, dann zeigt uns der Blick in die Tiefe, dass wir wieder eine Etage höher gekommen sind.

Eine Etage höher und damit auf derselben Stufe wie die Semmeringbahn und die Züge der Darjeeling Himalayan Railway in Indien steht die Rhätische Bahn mit der Albula-Bernina-Linie seit Anfang dieser Woche. Das heißt, sie steht ebenfalls auf der Liste des Unesco- Weltkulturerbes. Und sie stand auch ohne das Label bereits hoch im Kursbuch vieler Bahnfahrer - dennoch ist die Rhätische Bahn mit der Vermarktung schneller als ihre Züge: Bereits einen Tag nach der Aufnahme in die Unesco-Liste gab man ein vier Tage gültiges Generalabonnement, den neuen Unesco-Pass, für diese Strecke aus.

Das Erlebnis einer "Wendeltreppe", bei der die Bahn auf einer Luftlinie von zwölf Kilometern 700 Höhenmeter zu überwinden hat, ist nur einer von vielen Höhepunkten einer Fahrt mit der Berninabahn von Chur über Albulapass und Berninapass nach Tirano im italienischen Veltlin. Zunächst lässt sich die Fahrt mit dem berühmtesten Zug der Rhätischen Bahn ja wenig aufregend an. Die lange Schlange roter Panoramawagen beginnt diese wohl spektakulärste Bahnfahrt der Schweiz durch das Tal des Hinterrheins, durch die Domleschg genannte Landschaft, in der links und rechts Burgen oder Burgruinen von der Höhe grüßen.

Dann wechselt das Bild. Die Bahn taucht in dichten Bergwald ein, zieht hoch über der tief eingeschnittenen Schynschlucht hin, aus der hier und da für einen Moment das tiefgrüne Wasser der Albula aufscheint. Nach Filisur wird es dann wild. Von hier an lässt die Strecke erkennen, wie sehr sie Anfang des 20. Jahrhunderts den Ingenieuren die Zähne gezeigt hat. Neben dem berühmten Glacier-Express von St. Moritz nach Zermatt steht diese Berninastrecke für die Schweiz als Bahnland schlechthin. Wie mögen die Bauleute damals wohl die Gerüste gebaut und verankert haben, mit deren Hilfe sie den Landwasserviadukt hinter Filisur in die Höhe wachsen ließen? In weniger als einer Minute ist die Bahn über dieses technische Meisterwerk hinweggeglitten in einen Tunnel hinein.

Kaum aus dem Tunnel heraus, steigt die rote Wagenschlange in die Höhe, quert die Albula auf Viadukten. Kehre um Kehre ist der eiserne Weg in die Flanken der Berghänge gelegt. Hie und da können wir einen Blick auf den bahnhistorischen Lehrpfad erkennen, der mit der berühmten Krokodillokomotive markiert ist. Der Wald wird lichter, ein Pfiff, dann verschluckt uns der Albulapasstunnel.


Zahnlos über die Alpen


Pontresina. Der weltbekannte Kurort bleibt buchstäblich links liegen, während in seinem Bahnhof die Loks gewechselt werden. Nur schwere Gleichstrommotoren können die für eine Eisenbahn gewaltige Steigung von sieben Prozent zur Berninapasshöhe hinauf ohne Zahnradhilfe bewältigen. Die Berninabahn ist die höchste Bahnverbindung, die offen, ohne Scheiteltunnel und ohne Zahnrad, am Berninapass über die Alpen führt.

Die letzten Bäume bleiben zurück, in den Almwiesen blühen die Frühlingsblumen, zwischen denen die Bahn immer wieder weit ausholend der Passhöhe entgegenklettert. Beim Ospizio Bernina, 2380 Meter hoch gelegen, ist die höchste Stelle erreicht. Sprachscheide zwischen dem rätoromanischen Engadin und dem italienischsprachigen Puschlaver Tal ist sie, Wasserscheide zwischen dem Schwarzen Meer und der Adria. Der Lago Bianco, an dem die Bahn nun entlangzieht, und der von zwei Staumauern eingefasst zwischen Felsbrocken und Schneefeldern liegt, entwässert zu zwei Meeren hin.

Langer Halt auf der Alp Grüm in mehr als 2000 Metern Höhe. Die Schriftzeichen auf dem Bahnhofsgebäude könnten ahnen lassen, woher ein Großteil der Passagiere kommt, wären nicht ohnehin Scharen von Japanern auf der Alp Grüm ausgestiegen, um den gewaltigen Eismassen des Palügletschers Kameras entgegenzuhalten.

Langsam, ganz langsam, als hätte sie Angst, die Gewalt über sich selbst im steilen Abstieg zu verlieren, klettert die Berninabahn nun dem Puschlaver Tal entgegen, dem entlegensten Tal Graubündens. Blühten oben auf der Passhöhe noch die Frühlingsblumen zwischen Schneefeldern, fahren wir jetzt dem Sommer entgegen. Die Heuwiesen sind gemäht, die Kartoffelfelder blühen, aus dem Blattwerk der Bäume leuchten Früchte.

Dann das letzte technische Zuckerl, der Kreisverkehr von Brusio. Auf einem 360 Grad weiten Kreisviadukt, der auf Stelzen vor den Berghang gebaut ist, geht es in die Tiefe. Es sieht aus, als ob die Bahn mit sich selbst Karussell fährt. Blühende Edelkastanien tauchen auf, Reben bedecken die Hänge. Üppig blühende Rosenbüsche lassen zwischen Feigenbäumen ihre Ranken über Gartenmauern hängen, an denen vorbei der Berninaexpress nach vier Stunden in den Bahnhof von Tirano einfährt. (Christoph Wendt/DER STANDARD/Printausgabe/12./13.7.2008)