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Aleksandar Tisma

Foto: APA/dpa/Wolfgang Kluge

Novi Sad als Modell einer Welt der Gewalt: In den Romanen und Statements von Aleksandar Tisma werden die Illusionen der Normalität entlarvt. Am Sonntag starb der serbische Schriftsteller 79-jährig in seiner Geburtsstadt: Ein Nachruf.


Novi Sad - "Die Menschen sind zu allem fähig, aber den meisten ist es nicht bewusst. Dem Schriftsteller ist es bewusst": Krieg, Hass, Verrat, Macht in Beziehungen, Macht im Militär, Macht zwischen Besatzern und Unterworfenen: Das ist die in Dutzenden Figuren - jüdischen, faschistischen, nationalistischen - gemalte Romanlandschaft, die Aleksandar Tisma in seinen Büchern über den Zweiten Weltkrieg in der Landschaft zwischen Belgrad und Novi Sad entfaltet. (DER STANDARD, Printausgabe, 18.2.2003)

Am Sonntag ist der 1924 als Sohn einer ungarischen Jüdin und eines serbischen Vaters geborene Tisma 79-jährig einem Herzversagen erlegen. In jener Stadt, die er in Weltliteratur verwandelte, im "auf Pfosten in den lockeren, den Winden ausgelieferten Sand der Donauebene getriebenen" Novi Sad: Bevölkert mit Verlorenen, Verjagten, Gespaltene, machte damit Aleksandar Tisma - wie sein Freund Danilo Kis - die Vojvodina, eine Landschaft am Rande, zum Modell der Welt.

Natürlich wurde Tisma, von dem die New York Times 1997 meinte, er sei eine "seltene Stimme der Vernunft", seit den Jugoslawienkriegen (die ihn zeitweise ins französische Exil trieben) von vielen Medien als Orakel befragt. Eine Rolle, die er verweigerte: "Ein Schriftsteller hat keine Erklärungen, er kann nur zeigen, was ihm interessant scheint. Wenn er Erklärungen sucht, wird das, was er schreibt, zu Publizistik."

Pessimist, Prophet

Ob er, eine "50-jährige Isolation Jugoslawiens" befürchtend, nicht ein allzu pessimistischer Prophet sei? - "Der Pessimist hat immer Recht. Wenn Nostradamus sagt, die Welt geht irgendwann unter, so stimmt das, sie geht irgendwann unter." Anderseits: Ja, die aktuelle Gewalt sei eine Folge des Zweiten Weltkriegs. Womit man wieder bei seinem Werk wäre, dem "Pentateuch", wie Tisma den fünfbändigen Zyklus nannte (Das Buch Blam, 1972/ dt. 1995; Der Gebrauch des Menschen, dt. 1991; Die Schule der Gottlosigkeit, dt. 1993; Kapo, dt. 1997; Treue und Verrat, dt. 1999).

Die Genesis wird in Das Buch Blam entwickelt, sowohl was die Stadtgründung als auch was die Zuwanderungsgeschichte europäischer Juden und deren Verhältnis zu anderen Völkerschaften - Kroaten, Serben, Ungarn, Deutschen - betrifft: Inmitten einer Katastrophe, die nicht erst damit begann, dass Deutschland 1941 Jugoslawien überrollte, in Kroatien die faschistische Ustascha etablierte und die Vojvodina unter ungarische Verwaltung stellte, versucht Miroslav Blam zu überleben. Er kreist um Beziehungen einerseits, um das Kino Avala im Zentrum Novi Sads anderseits.

Hier findet sich erstmals Tismas auf Quellen (Zeugenaussagen und Zeitungen) gestützter, unpathetisch-sachlicher Stil, wo etwa die Bewohner der "ehemaligen" Judengasse aufgezählt werden: Hausnummer für Hausnummer die 1942 deportierten Bewohner, etwa den Schneider auf Nr. 4, der "aus Galizien nach Deutschland, aus Deutschland nach Österreich und schließlich nach Jugoslawien geflüchtet war".

Auch den Brudermord gibt es schon in Blam, als nämlich der Held sich selbst zwar retten kann, aber nicht bereit ist, einen Kindheitsfreund bei sich zu verstecken: nicht nett, aber realistisch.

Keine Überraschungen

Er habe sich nach 1945 nie gefragt, sagte Tisma einmal im Gespräch, wer Täter war: "Die Menschen sind eben so." Und: "Das Schrecklichste ist nicht überraschend. Überraschend ist nur, dass es dann tatsächlich geschieht. Es könnte ja auch nicht passieren." In seinem Werk passiert aber alles.

In Kapo zum Beispiel dieser Fall: Der Jude Valko Lamian aus Banja Luka wird im KZ als Kapo zum Befehlshaber über andere Gefangene. Das ist für ihn, als Slawe und Jude der potenzierte Untermensch, die einzige Art zu überleben. In seiner Position ist es ihm möglich, Nahrung nicht nur gegen Goldzähne aus dem Krematorium, sondern auch gegen Geschlechtsverkehr mit Gefangenen zu tauschen.

Eines aber ist im System, das Anpassung verlangt, nicht vorgesehen: Persönliches. Eine Vergewaltigte überrascht den Kapo aber: Ihre Tränen vergisst Lamian auch nach dem Krieg nicht, er beginnt die ehemalige Unterworfene in ganz Kroatien und Serbien zu suchen, ein weiterer Nachfahre Kains, umherirrend auf dem Festland.

Ein Moralist sei er aber am allerwenigsten, meinte Tisma. Er beobachte nur. Das habe er, als Halbjude 1942 aus Novi Sad nach Budapest geflohen und nach dem Krieg als "trocken konstatierender Journalist" arbeitend, schon für das eigene Leben immer so gehalten. Und: "Die Literatur ist wie das Leben: eine Szene, etwas, was geschieht."

Diese Haltung macht seinen Stil - scheinbar trocken, knapp, aber eben dadurch dem Leser keine Ausflucht freilassend - so unausweichlich, das macht seine Bücher zu Protokollen alltäglichen Schreckens. An das heile "Normale" glauben dieses Werk und sein Autor so wenig wie die Psychoanalyse Freuds. Im Gegenteil: Die Geschichte zeigt in ihren Extremen, wie sie Tismas Romanwerk penibel nachzeichnet, wie verformbar gerade die scheinbar "Normalen" sind, wie sie zu Opportunismus, zu Grausamkeit, zur Bildung von Hetzmeuten neigen.

Um dieses Umkippen zu zeigen, genügen dem Dichter Tisma die kleinsten Variationsmöglichkeiten eines Stils der sachlichen Grausamkeit: Das Folterzimmer heißt da einfach "Arbeitsraum". Und in dieser Geschichte eines Folterers, Die Schule der Gottlosigkeit, reichen drei Namen aus, um zu zeigen, dass die Lust an Folter keineswegs national einschränkbar ist: Dulics heißt der eine Folterknecht, Révécs - also ungarisch - sein Vorgesetzter, Domokos, der "Kollege".

In dieser Welt glaubt man nur an Schläge, nicht an Worte: "Worte standen ihm bis zum Hals, diese Worte, die in den Arbeitsräumen und Zellen, Büros und Fluren tausendfältig vergeblich vergossen werden." - "Worte vergießen": wie Blut.

Nun: Aleksandar Tismas Worte sind nicht vergeblich vergossen. Sein Werk muss zusammen gesehen werden mit den im gleichen Geschichtsraum spielenden Romanen von Danilo Kis und von Imre Kertész: Es ist der Raum eines unheimlichen Mitteleuropas, Gewalt aus den Hinterzimmern der Normalität. (DER STANDARD, Printausgabe, 18.2.2003)