Spike Lee
25th Hour

Foto: Filmfestspiele Berlin

George Clooney
Confessions Of A Dangerous Mind

Foto: Filmfestspiele Berlin

Claude Chabrol
La fleur du mal

Foto: Filmfestspiele Berlin

Private Desaster in der Nachbarschaft von Ground Zero; ein "Herzblatt"-Erfinder als Killer und Spion; Geschwisterliebe und Mord im Umfeld französischer Kommunalwahlen: Schuld und Sühne sind ein Lieblingsthema der diesjährigen Berliner Filmfestspiele.


Gewaltige Scheinwerfer, die mit ihrem Licht den Himmel abtasten, Wolkendecken durchbohren: ein Bild als Versprechen, das man aus Studiovorspännen kennt - und das doch gleichzeitig alarmierend Erinnerungen an Luftkriege beschwört. Nur langsam geht die Kamera im Vorspann zu Spike Lees neuem Film 25th Hour (25 Stunden) in die Totale: Wir sehen die Lichttürme, die in der Skyline von Manhattan an das World Trade Center erinnerten.

Nichts wird jemals mehr so sein wie vorher: Diesen Stehsatz, der nach 9/11 oft proklamiert wurde, überprüft Spike Lee in weiterer Folge rund um einen Mann, der aus relativ trivialem Anlass vor den Trümmern seiner Existenz steht: Monty Brogan (Edward Norton), einst Drogendealer und als solcher ziemlich populär in der New Yorker Halbwelt und Society, verabschiedet sich von seiner Familie und von seinen besten Freunden. Sieben Jahre Gefängnis stehen ihm bevor, und das ist Anlass genug, darüber nachzudenken, wie und warum er quasi in permanentem Erfolgsbewusstsein alles aufs Spiel gesetzt und verloren hat.

David Benioffs Roman 25th Hour wurde Jahre vor Ground Zero geschrieben. Spike Lee erschien es aber "künstlerisch verantwortungslos, den Film so zu drehen, als hätte es den 11. September nicht gegeben". Also drängen sich beinahe beiläufig Spuren der historischen Katastrophe in die Reflexionen über privates Versagen: Montys Freunde beginnen zu streiten, ob er jetzt für immer "erledigt" ist, während im Hintergrund auch nächtens die Aufräumarbeiten im Trümmerfeld weitergehen. Im irischen Pub, in dem der Held seinen Vater noch einmal zum Abendessen trifft, hängen Memorabilia von Feuerwehrmännern. Und auf durchaus unerwartete Weise hebt dabei eine drohende Prätentiösität die andere auf.

Ende mit Springsteen

Als reines Kammerspiel am Vorabend eines Abschieds wäre der Film nämlich wohl nur ein weiteres unter vielen Rühr- und Lehrstücken geworden. Und betroffene Blicke von Künstlern auf 9/11 gibt es mittlerweile auch schon zur Genüge. Spike Lee hingegen gelingt es, einerseits die New Yorker Lebens- und Kinoklischees im Kontext von Ground Zero zu kippen. Andererseits ist 25th Hour eine der ersten Annäherungen an den Einsturz des WTC, die weniger mit Ruf- als mit Fragezeichen agiert - durchaus vergleichbar mit den besseren Songs auf Bruce Springsteens letztem Album. Tatsächlich ertönt einer von ihnen im Nachspann: "The Fuse is burning ..." Keine Rede, dass die Löscharbeiten auch nur irgendwie zu Ende kämen.

Schuld und Sühne, Vanitas und Veritas: Das sind, wie könnte es derzeit anders sein, prägende Themen der 53. Berlinale, deren Gäste nicht müde werden, Bedenken gegen amerikanische Selbststilisierungen zu äußern: Siehe etwa Dustin Hoffman, der bei einer "Cinema for Peace"-Gala jeden Antiamerikanismus von sich wies, aber "gegen die Politik der gegenwärtigen Regierung" und eine "Manipulation durch die Medien" klar Stellung bezog (ein Auszug daraus hier). Siehe auch George Clooney, der in seinem Regiedebüt Confessions Of A Dangerous Mind durchaus doppelbödig Fallstricke im Bereich "Medien und/als Politik" aufzeigt, entlang der "unautorisierten Autobiografie" des US-Talkmasters und Herzblatt-Erfinders Chuck Barris, der behauptet, parallel zu seinen TV-Erfolgen CIA-Killer gewesen zu sein.

Ob das stimmt, weiß bis heute niemand. George Clooney nimmt jedenfalls die "Geständnisse" ernst und überträgt sie in ein tragikomisches Biopic, dem anzusehen ist, dass der talentierte Regiedebütant sein Handwerk bei Steven Soderbergh und den Coen-Brüdern gelernt hat. Sicher: Manchmal wären ein paar inszenatorische Ideen weniger definitiv mehr, aber der Schauspieler Sam Rockwell, der da zunehmend außer sich gerät, während er in der Hauptrolle um Quoten und um Mordaufträge buhlt, ist schlicht großartig.

Wie sehr weniger manchmal mehr sein kann, beweist in Berlin wiederum der französische Altmeister Claude Chabrol - und das schon im Titel seines Films, der auf einen berühmten Plural von Charles Baudelaire verzichtet und lediglich eine Blume des Bösen (La fleur du mal) ankündigt: Einmal mehr erzählt Chabrol das, was man gemeinhin Krimi nennt, aber die Ausgangssituation - bourgeoise Familie mit dunkler Vergangenheit und permanent vertuschten größeren und kleineren Makeln - ist für ihn lediglich ein Grundgerüst für eine spielerische, boshafte Variation zum Thema: das konservative Frankreich heute.

Alte Traditionen ...

Da flüchtet eine elegante Madame (Nathalie Baye) in die Politik, um nicht länger von den Seitensprüngen ihres Gemahls (Bernard Le Coq) verletzt zu werden. Ein junger Mann (Benoît Magimel) hat wenig Bedenken, sich in jenes Mädchen (Mélanie Doutey) zu verlieben, das ihm vielleicht verwandtschaftlich näher ist als nur Stiefschwester. Und die alte Tante Line (Suzanne Flon) weigert sich beharrlich, Hintergründe eines Mordes am Ende des zweiten Weltkrieges zu verraten. Ein plötzlich auftauchendes Flugblatt vor Bürgermeisterwahlen deutet an: Kollaboration mit den Nazis scheint eine Rolle gespielt zu haben; Inzest hat in dieser Familie Tradition.

Fast unwillig baut Chabrol Spannung auf. Lieber beobachtet er die Politikerin bei entwürdigenden PR-Gesprächen in Arbeitersiedlungen oder ihr Taktieren mit politischen Gegnern. Chabrol: "Die Protagonisten sind beängstigend normal. Wenn es kein Verbrechen gegeben hätte, vielleicht gäbe es dann nichts zu berichten, außer dass sich nichts verändert."

Gleichzeitig heiter zuzusehen, wie eine Leiche, die man gerade mühsam die Treppe hochgeschleppt hat, wieder nach unten zu poltern droht: Wer könnte das besser als dieser greise, große Filmemacher, der uns zeigt: "Böse" können mitunter auch Mauer- oder Gänseblümchen sein.
(DER STANDARD, Printausgabe, 13.2.2003)