Im schlichten Deutsch politischer Brachialhermeneutik liest sich das Wahlergebnis der Landtagswahlen in Niedersachsen und Hessen so: Die SPD kann's nicht. Denn dass nur eine von zwei an einer Regierungskoalition beteiligten Parteien durch den Wähler abgestraft wird, ist gewiss nicht minder bemerkenswert wie die Fallhöhe, die besagter Wähler dieser einen Partei zumutete.

Was sich in Deutschland kurzfristig abzeichnet, ist etwas, was es so noch nie gab: eine virtuelle "Kohabitation paradox" zwischen dem reformorientierten Flügel der SPD, den Grünen und dem kooperationsorientierten Flügel der CDU/CSU. Und was sich mittelfristig abzeichnet, ist eine Frage, die aus den hohen Sphären strategischer Sandkastenspiele in den Bereich ernst zu nehmender politischer Möglichkeiten führt: die nunmehr auch in Österreich virulent gewordene Frage nach einer schwarz-grünen Entente.

Doch fiel schon in jüngerer Vergangenheit auf, mit welcher Eilfertigkeit bewährte Kombattanten beider Lager derartige Überlegungen ins Reich politischer Fantastik verwiesen. Der Widerstand dagegen jedenfalls ist hüben wie drüben so groß, dass man dahinter eine stattliche Verdrängungsleistung zu argwöhnen beginnt - die von einer gar bedrohlichen Ahnung gespeist wird: dass "Schwarz-Grün" den mentalen Block aus stupender Routine und Wirklichkeitsverweigerung, der die deutsche Parteienpolitik in zunehmendem Maße charakterisiert, aufsprengen könnte. Das wäre die These.

Sie basiert auf der Einsicht, dass es eine sinnvolle Alternative zum System der repräsentativen Demokratie nicht gibt. Ein System indes, das in einem erheblicheren Maß als die Autoren des Grundgesetzes sich das einst vorzustellen vermochten, von der Eigenlogik parteipolitischer Ambitionen besetzt wurde. Die dreiste Aufteilung der Einflusssphären zwischen den organisierten politischen Lagern im Verbund mit ihrer Willfährigkeit gegenüber den Einflüsterungen der Lobbys und Interessengruppen, die sich jenseits jedweder demokratischen Kontrolle durchsetzen; nicht zuletzt ihr vorauseilender Populismus, der beim "Populus" selbst kaum noch auf Resonanz stößt, hat zu einer hartnäckigen Versteinerung dieses Systems geführt.

Heilsame "Rosskur"

Davon ausgehend, stellt sich die Frage nach einer parteipolitischen Konstellation, deren Dynamik eben jene dem Parteipolitischen geschuldeten Verhärtungen aufbrechen könnte. Wäre das "Schwarz-Grün"? Alle anderen denkbaren Kombinationen jedenfalls sind altbekannt, längst durchgespielt und konsolidieren nur das immergleiche Macht-und Diskursgefüge.

Schwarz-Grün wäre gleichsam die Rosskur des parlamentarischen Systems. Und das gewiss nicht wegen der momentan debattierten Einhelligkeiten zwischen beiden Parteien (z. B. in Fragen der Sozial, -Finanz- oder Biopolitik). Doch gerade die vor dem Hintergrund dieser Affinitäten auszutragenden Differenzen könnten jener heilsame Schock sein, der die Parteien wirklichkeitstauglicher machte. Die spiegelsymmetrischen Verzerrungen in der Ausländer- und Integrationspolitik etwa, wie sie für Grüne und Union charakteristisch sind, fänden in ihrem jeweiligen Pendant das heilsame Korrektiv. Der Immigrant als Projektionsfläche urdeutscher Ängste - hier: vor dem eigenen Deutschsein; dort: um dieses Deutschsein - könnte der Einsicht weichen, dass Immigration staatlicher Lenkung bedarf, dass sie notwendig und auch bereichernd ist und dass Probleme, die die einheimische Bevölkerung damit hat, nicht vorderhand als Ausbund rassistischer Gesinnung missdeutet werden dürfen.

Wobei die Effekte einer schwarz-grünen Koalition einerseits auf die Parteien unmittelbar ausstrahlten, indem sie die Grünen zu einer Schärfung ihres staatsbürgerlichen Selbstverständnisses - sprich: zur politisch eindeutigen Verortung im parlamentarischen Systems zwängen; die Schwarzen zu einer längst überfälligen Liberalisierung - sprich: kulturellen Modernisierung. Ohne eine dauerhafte Schwächung des fundamentalistischen Flügels `a la Ströbele hier wie des Betonkonservatismus Kochscher Prägung da, wäre sie indes nicht zu haben.

Andererseits aber griffen besagte Effekte auch auf die gesellschaftspolitischen Milieus über, aus denen beide Parteien ihre Wählerschaften rekrutieren.

Der Bruch, der Grüne und Bürgerliche trennt, würde als das kenntlich, was er ist: ein gesamtgesellschaftliches Selbstmissverständnis. Der antibürgerliche Affekt der politischen Protestkultur, aus dem die Grünen hervorkamen, wurzelt tief im Bürgertum. Kurzum: "Schwarz-Grün" wäre eine Art mentale Kulturrevolution unter den a-revolutionären Konditionen des Parlamentarismus.

Eine Versöhnung beider Lager könnte psychohistorisch jene Kräfte freisetzen, die die Lähmung dieses Systems zu beenden vermag. Ein solches Experiment in politischer Makrophysik erforderte eigentlich nur eins: den Mut, sich der Gravitation, die eine Näherung beider Blöcke auslöste, auch auszusetzen. Es wäre, aus Verzweiflung, der Mut zum Neuen. (DER STANDARD, Printausgabe, 6.2.2003)