Foto: APA/epa/AFP/Olivier Laban-Mattei
Jean-Pierre und Luc Dardenne bei der Premiere von "Le fils" 2002 in Cannes
"Le fils - Der Sohn", die jüngste Arbeit des belgischen Regieduos Dardenne, startet nach zwei Aufführungen im Rahmen der Viennale'02 am 7. Februar regulär im Stadtkino in Wien. Dominik Kamalzadeh sprach mit Luc Dardenne über die Übersetzung von Beziehungen zwischen Personen in ein physisches Spannungsverhältnis zwischen Akteuren und Kamera.


Wien - Eine Dynamik aus Nähe und Distanz: Der Tischler Olivier vermag Entfernungen zentimetergenau abzuschätzen. Ob er auch jene zu seinem neuen Lehrling richtig berechnet, das gibt dem neuen Film der Brüder Luc und Jean-Pierre Dardenne seine untergründige Spannung: Denn Olivier lässt den Jungen nicht mehr aus den Augen, er folgt ihm, wenn er den Arbeitsplatz verlässt - aus zunächst völlig unklaren Motiven.

Le fils übersetzt die ambivalente Beziehung zweier Menschen in fließende Blick-und Raumverhältnisse. Wie der Meister an seinen Lehrling heftet sich die Kamera an die Bewegungen Oliviers und vollzieht seine Gesten (und damit sein Interesse) aus nächster Nähe mit. Ein vergangenes Verbrechen verbindet die beiden, wie sich allmählich zeigt; der materialistische Blick auf ihr Zusammentreffen lässt Le fils - getragen von der wuchtigen Präsenz seines Hauptdarstellers Olivier Gourmet - nach Rosetta zu einer weiteren meisterhaften Studie menschlichen Verhaltens unter extremen Bedingungen werden.

Foto: Stadtkino
Der Lehrling (Morgan Marinne) im Visier seines Meisters (Olivier Gourmet)


STANDARD: Monsieur Dardenne, mehr noch als in Rosetta und La Promesse scheint in Le Fils die Frage ethischen Handelns im Mittelpunkt zu stehen.

Luc Dardenne: Ich glaube, wir wollten bis zum Letzten gehen; schon in den anderen beiden Filmen gibt es einen Mord: In La Promesse stirbt ein afrikanischer Arbeiter, in Rosetta die Mutter. Nun war die Frage: Was macht ein Mensch in einer solchen prekären Situation? Was heißt es, einen Menschen zu töten oder eben nicht zu töten?

STANDARD: Dabei wird dem Körper die größte Aufmerksamkeit geschenkt. Drückt dieser für Sie das Wesentliche einer Figur aus?

Dardenne: Die Physis von Olivier Gourmet hat uns fasziniert. Sie ist das Zentrum dieses Films. Denn er hat etwas sehr Zweideutiges: Einerseits wirkt er sehr massiv, andererseits aber ist er überraschend wendig und geschwind. Und es gibt in seinem Blick etwas sehr Unbestimmtes. Man kann nie genau sagen, wohin er gerade blickt. Olivier ist eine Art System, das Spannung produziert. Schon nach La Promesse haben wir mit ihm vereinbart, dass es einen Film geben soll, in dem er die Hauptfigur wird.

STANDARD: Es gibt die Ambivalenz seines Blicks und dann noch den der Kamera. Welche Aufgabe hat sie?

Dardenne: Die Bewegung der Kamera verfolgt das Kräftemessen, die latente Gewalt dieser Situation zwischen den beiden Figuren mit. Wir haben eigentlich zwei Dinge versucht: Zum einen wollten wir dem Zuschauer seine Orientierungspunkte zu nehmen. Er soll durch die ständige Bewegung mitgezogen werden, ohne dass er dabei Olivier unbedingt sieht. Dann ging es darum, das Begehren Oliviers, dem Buben zu folgen, nachzuvollziehen, indem wir dieses gewissermaßen verräumlichen. Sein Begehren war gleichsam an der Kamera angesteckt.

STANDARD: Weil er keine Sprache findet?

Dardenne: Es geht ja im Grunde um die Unmöglichkeit eines Gesprächs. Wir haben stets an die Arbeit gedacht, an die Vermittlung des Handwerks - damit versucht Olivier, dem Jungen näher zu kommen. Darauf ist der Dialog beschränkt, die Worte vermitteln sich nur über Gesten.

STANDARD: Und es gibt eine metaphorische Ebene: Der Tischler schätzt Distanzen ab, nimmt Maß.

Dardenne: Ja, deswegen haben wir auch einen Tischler gewählt. Seine Tätigkeit ermöglicht es einem, zu beobachten, was passiert, wenn die Distanz zwischen zwei Körpern verringert oder aufgehoben wird. Und darum geht's im Film: festzustellen, was die Verringerung dieser Distanz mit sich bringt. Wie weit kann Olivier gehen, wie viel Nähe ist für ihn überhaupt erträglich?

STANDARD: Ihre Filme sind stets in Randzonen der Gesellschaft situiert. Warum entscheiden Sie sich für solche Orte?

Dardenne: An solchen abgelegenen Orten kann man nachschauen, was nicht funktioniert. Um zu verstehen, was im Zentrum nicht richtig läuft, muss man an die Ränder gehen. Das ist auch der Grund, warum wir uns immer mit jugendlichen Außenseitern - ob männlich oder weiblich - befassen: weil das ein Alter ist, wo sich noch sehr viel ändern kann. Wir versuchen auszuloten, für welche Richtung sich eine Figur entscheidet.

STANDARD: Wie entwickeln Sie den Rhythmus ihrer Filme? Wie viel wird improvisiert?

Dardenne: Am Set improvisieren wir überhaupt nicht mehr, aber davor wird sehr viel geprobt. Zuerst legen wir mit den Schauspielern die Bewegung fest, dann wird jene der Kamera fixiert. Die Bewegung der Schauspieler bestimmt jene der Kamera - eigentlich ähnlich wie beim Dokumentarfilm. Das Ziel ist dabei stets, die Bewegung der Schauspieler, die vorher da ist, unabhängig von jener der Kamera zu machen: Sie soll vielmehr autonom bleiben.

STANDARD: Apropos Dokumentarfilm: Sie haben ja früher selbst welche gemacht. Was war für Sie entscheidend, zum Spielfilm zu wechseln?

Dardenne: Es gibt Dinge, die man mit dem Dokumentarfilm nicht zeigen kann. Man kann etwa keinen Mord filmen, höchsten die Intention eines Mordes. Um das, was wir wollten, erzählen zu können, brauchten wir ab einem gewissen Moment die Fiktion. Mit der Fiktion kommen wir der Wahrheit näher. Dennoch blieben wir einem dokumentarischen Stil treu: Wir dringen in einen fiktiven Ausschnitt der Wirklichkeit ein, um etwas festzuhalten, was diesen übersteigt. Im Dokumentarfilm hat man mit einer Realität zu tun, die vor einem da ist - und das Wirkliche ist das, was Widerstand leistet.

Foto: Stadtkino
Handwerk in Nahaufnahme
(DER STANDARD; Printausgabe, 5.2.2003)