Foto. Buchcover
Ein abendliches Gespräch mit einem amerikanischen Regional-Literaturpapst. Oder richtiger: Der saturierte Monolog eines ewigen Geilspechts, der angeblich seinen Kafka und seinen Tschechow in- und auswendig kennt, einen aber selbst weder durch rhetorische Klasse noch durch Charme zu gewinnen weiß. Kurz: Ohne Abschweifungen zieht Philip Roth die Leser seines neuen Romans in eine denkbar unbehagliche Situation. Und in dieser Hölle fallen Sätze wie: "Junge Frauen fühlen sich hoffnungslos zu Berühmtheiten hingezogen, so unerheblich meine auch sein mag." "Wie Sie wissen, bin ich für weibliche Schönheit sehr empfänglich." Und dann Huldigungen an eine ehemalige Liebschaft: "Sie ist eine große Frau mit einem großen Busen. Die oberen beiden Knöpfe ihrer Seidenbluse sind geöffnet, so dass man sehen kann, dass sie ausladende, wunderschöne Brüste hat." Oder: "Ich saß neben ihr und warf Blicke auf ihr wunderschönes Dekolleté und ihren wunderschönen Körper. Sie hat BH-Größe D, diese Herzogin, wirklich große, schöne Brüste und eine sehr weiße Haut, eine Haut, die man in dem Augenblick, da man sie sieht, ablecken möchte." Schließlich: "Ich begann ihren Hintern zu streicheln, und das gefiel ihr." Da sind wir bereits auf Seite 33, immerhin etwa beim Ende des ersten Fünftels von Das sterbende Tier - und eigentlich würde man nun das Buch am liebsten in die nächste Ecke pfeffern. Gemach! Denn wie so oft bei Philip Roth ist hier ein Netz von (Selbst-)Täuschungen und (Vor-)Urteilen längst ausgeworfen. Und zu den Knoten dieses Netzes gehört einmal mehr, dass einem der Ich-Erzähler, David Kepesh, bekannt vorkommt. Mit dem aber, was wir von ihm zu wissen glauben, hat er nichts (mehr) zu tun. Oder? Im erzählerischen Universum Roths, in dem Autobiographie und Fiktion, Analyse und delirierende Wachträume einander permanent gegenseitig reflektieren, wie Spiegelscherben, die man nicht mehr zum großen Ganzen zusammensetzen kann - ist Kepesh die vielleicht horribleste Figur: Weniger ein Charakter als eine Schablone, in die der Autor ziemlich vulgär Assoziationen zum Thema Sex und Tod einfügt; die Karikatur eines Bildungsbürgers, eines Literaturprofessors, der selbst katastrophale Prosa produziert. Oder: Eines weißen Amerika, dem Erinnerungen an Europa im Nacken sitzen, aber dieses erlesene Wissen taugt bestenfalls als Aphrodisiakum für Aufrisse. Bereits 1972 berichtete der Kafka-Experte Kepesh in der Novelle Die Brust von einer lächerlich-grausigen Verwandlung: "Am einen Ende bin ich abgerundet wie eine Wassermelone, am anderen laufe ich in eine zylindrisch geformte Brustwarze aus, die 12,5 cm aus meinem ,Körper' herausragt..." 1977 schließlich wurde er, als sei nichts geschehen, Held des Romans Professor der Begierde, ein in Affären heillos verstrickter Typ, der anlässlich eines Seminars über erotische Literatur meint: Die Erotik in diesen Büchern sei auch deshalb von Bedeutung, weil "die Lektüre um ein Thema gruppiert werden sollte, mit dem Sie alle bis zu einem gewissen Grad vertraut sind: Das könnte Ihnen vielleicht helfen, diese Bücher in der Welt der Erfahrung anzusiedeln und Sie darüber hinaus vor der Versuchung bewahren, sie in der bequemen Unterwelt erzählerischer Kunstgriffe, metaphorischer Motive und mythischer Archetypen unterzubringen." Genau dies exerziert Roth nun in Das sterbende Tier vor: Er verunmöglicht in höchster und teilweise bewusst banaler Konkretisierung von "Erfahrung", dass die schäbigen Geschichten, die sein Held zu erzählen hat, allzu leicht als weiterer großer literarischer Wurf prädikatisiert und damit verharmlost werden. Und schäbig ist nicht nur die Nebenher-Affäre mit der kubanischen Studentin mit den begeisternden Brüsten, der im übrigen auch ein tragischer Epilog Jahre später nur bedingt melodramatische Größe verleiht. Schäbig oder zumindest eher bodenständig sind auch Kepeshs Auslassungen über Kuba selbst, über die Jahre der sexuellen Revolution, seine Einschätzung seines Sohnes. Und die Versuche des Erzählers, aus katastrophalen Selbstinszenierungen noch so etwas wie grimmigen Witz zu entwickeln, sie wirken ein wenig hilflos. Bisher hat Philip Roth diese Hilflosigkeit meist virtuos transzendiert: Er hat ihr in der mittlerweile monumentalen amerikanischen Tragikomödie, in der seine Bücher immer mehr zu miteinander kommunizierenden Episoden (und Variationen derselben) werden, immer einen Rest an Größe belassen. Aber hier? "Das sterbende Tier", als das sich Kepesh mittlerweile sieht, erkennt zwar seine Eitelkeit, aber es entkommt ihr nicht. Der Ekel, der Roth immer wieder schubweise zu erfassen schien, wenn er sich dem menschlichen oder einfach nur dem eigenen Makel näherte, wirkt diesmal derart ungebremst, dass der Text selbst sich illusionslos gegen Rettung durch Meisterschaft zu sträuben beginnt. Das Buch ist denn auch nach den Kritiker-Hymnen, die Roth in den letzten Jahren erntete, zumindest in den USA nicht selten irritiert bis ablehnend rezensiert worden. Mit dem Grundtenor: Wenn schon politisch unkorrekt (wie es Roth immer war), dann bitte voll Könnerschaft! Diese Einschätzung verfehlt die Intentionen von Das sterbende Tier nicht nur, sie geht einmal mehr dem Täuscher Philip Roth in die Falle. In gewisser Weise hat er seinem Werk nun einen schutzlosen Moment der Agonie eingeschrieben, von dem aus man seine anderen Bücher neu lesen kann: Als zunehmend forschen Dialog mit dem Leser. Am Ende will Kepesh seine krebskranke ehemalige Geliebte besuchen und plötzlich redet dann - zwischen Anführungszeichen - sein Gegenüber (wir?): "Wenn Sie gehen, sind Sie erledigt." (Claus Philipp, DER STANDARD, ALBUM, Printausgabe vom 1./2.2.2003)