Philosophin, Schriftstellerin und Feministin Simone de Beauvoir
Philosophin Susanne Moser
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dieStandard.at: Sie haben sich in ihrer Arbeit als Philosophin sehr stark mit Simone de Beauvoir beschäftigt. Ein großer Schwerpunkt dabei war der Freiheitsbegriff in Beauvoirs Leben und Werk...

Susanne Moser: Man könnte sagen, dass Beauvoirs Philosophie eine Philosophie der Befreiung ist – sie ist sozusagen eine Befreiungsphilosophin. Mit dem Thema Frauen und Freiheit und feministischen Ideen hat sie aber erst im Alter von 39 Jahren begonnen, sich auseinanderzusetzen. Ursprünglich hat sie sich rein mit philosophischen Theorien beschäftigt und sich als Schriftstellerin positionieren wollen.

In Beauvoirs philosophischen Essays "Pyrrhus und Cineas" und "Moral der Doppelsinnigkeit" geht es um die Befreiung aus der Unterdrückung und die Beschreibung dessen, was den Existenzialismus ausmacht.

Sartre hatte am Ende von "Das Sein und das Nichts" eine Moral angekündigt, dieses Versprechen bis dahin aber nicht eingelöst. Beauvoir setzt die in der "Moral der Doppelsinnigkeit" entwickelte Begrifflichkeit im "Anderen Geschlecht" explizit voraus.

dieStandard.at: Wie aktuell sind Beauvoirs philosophische Ideen heute noch?

Susanne Moser: Der Existenzialismus hat vieles von dem vorweggenommen, das heute an der Tagesordnung ist: Keine gottgewollte Ordnung bestimmt mehr den Platz, den der Einzelne einzunehmen hat. Der Platz in der Gesellschaft muss erst erkämpft werden. Wenn Gott meinen Platz bestimmt, ist mein Ziel vorgegeben. Der Mensch ist nicht das, was er "ist", d.h. seine Klasse, Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, usw., sondern das, was er aus sich macht. Der Existenzialismus lehnt jede Festlegung und Fremdbestimmung von außen ab. Der Mensch muss sich selber Ziele suchen. Wenn ein Ziel erreicht ist, muss man sich aber wieder ein neues suchen, und so weiter, und es kommt nie zum Stillstand. Das hat sich in unserer heutigen Gesellschaft bis ins Extrem radikalisiert, in Richtung "Wenn Du nichts tust, bist Du nichts wert." So könnte man den Existenzialismus auch missverstehen.

Beauvoir thematisiert die Sehnsucht nach einem absoluten Ziel und stellt sich in "Pyrrhus und Cineas" die Frage nach der Sinnhaftigkeit des hastenden Tuns und der ständig neuen Zielsuche – was auch Beckett etwa am Beispiel des Hamsterrads weiterführt: Der Hamster läuft und läuft und eigentlich ist es absurd, weil er dadurch nicht weiterkommt. Der Existenzialismus radikalisiert die Freiheit: "Der Mensch ist verurteilt zur Freiheit." Das ist insofern heute noch ganz aktuell, weil wir nichts mehr haben, was überhaupt irgendwie vorgegeben ist: Wir müssen uns alles selber finden, vom Job bis zum Sinn in unserem Leben. Was also damals, in der Zeit, als Beauvoir sich damit beschäftigte, noch rein theoretisch diskutiert wurde, ist heute Realität geworden.

dieStandard.at: Was passiert im Alter, wenn der Mensch nicht mehr in der Lage ist, etwas "aus sich zu machen"?

Susanne Moser: In ihrem Spätwerk, "Das Alter" gibt uns Beauvoir eine Antwort darauf. Sie fordert eine Welt, in der dem Menschen auch im Alter das Menschsein ermöglicht wird, dass er auch dann noch seine Entwürfe, und mögen diese noch so klein und unscheinbar sein, zu realisieren. Es geht darum, etwas zu tun, was einem Freude macht – sei es, dass man Freunde trifft, dass man Karten spielt oder einfach füreinander da ist. Der Mensch darf nicht nur danach beurteilt werden, ob er für die Gesellschaft von Nutzen ist.

In dieser Frage greift sie ganz stark den Kapitalismus an: Sie verbindet Existenzialismus mit Sozialismus und meint, dass es für die Realisierung der Projekte, Ziele, Entwürfe, passende Rahmenbedingungen brauche. Wenn ich so viel arbeiten muss, dass ich mich vollkommen verschleiße, bin ich im Alter nur mehr ein Wrack. Wenn ich nur ein Rädchen in einer großen Maschine bin, ist keine Selbstverwirklichung möglich. Im sozialistischen Ansatz wird Arbeit mit Selbstverwirklichung gleichgesetzt, was aber eine ganz bestimmte Form von Arbeit erfordert – eine, in der ich mich durch meine Kreativität erkennen kann, an der ich Freude habe und in der ich einen Sinn finde.

dieStandard.at: Wie fand Simone später den Zugang zu Feminismus und Frauenfragen?

Susanne Moser: Im Alter von 39, als sie ein Buch über sich schreiben wollte, führte sie ein Gespräch mit Sartre. Sartre sagte zu ihr, was sie sich genauer anschauen müsse, sei die Tatsache, dass sie eine Frau sei. Beauvoir reflektiert hier zum ersten Mal den Unterschied zwischen den Geschlechtern – sie selbst hatte sich nämlich bis dahin nie unterdrückt oder benachteiligt gefühlt, da sie die Möglichkeit hatte, zu arbeiten, zu studieren und dabei auch viel unter Männern war. Sie hat durch dieses Gespräch erstmals entdeckt, dass die Welt männlich ist.

dieStandard.at: Wie sehr hat Beauvoir ihre philosophischen Ideen später in ihrer Arbeit rund um die Frauenfrage und den Unterschied der Geschlechter umgesetzt?

Susanne Moser: Sehr stark. Sartre und Beauvoir sagen, der Mensch versucht, die Freiheit zu fliehen – und Beauvoir behauptet, die Frauen fliehen vor der Freiheit zu den Männern, weil sie froh sind, dass sie jemanden haben, der ihnen sagt, was sie tun sollen, weil es sich so leichter, weil ökonomisch abgesichert, lebt und weil ich mir so keine Ziele setzen muss.

Zugleich betont sie aber, dass die Frauen durch die männliche Verfügungsgewalt und die männliche Definitionsmacht davon ausgeschlossen wurden, sich selbst Ziele setzen zu können. Was vom Frausein da war, war eigentlich nur das vom Mann über Jahrtausende Konstituierte. Was es heißt, Frau zu sein, könne man eigentlich erst sehen, wenn dieses Herrschaftsverhältnis aufgelöst ist.

Es wurde ihr oft vorgeworfen, dass sie selbst keine eigene „weibliche“ Biografie hat, also Ehe, Familie, Kinder – sie entgegnete darauf, dass sie genau aus diesem Grund die Frauenfrage aus einer neutraleren Position beobachten hätte können.

dieStandard.at: Warum hatte sie keine "weibliche" Biografie, wollte nicht heiraten oder eine Familie gründen?

Susanne Moser: Die Kreativität, das Schreiben und das Leben zu Sartre hatten in ihrem Leben den höchsten Stellenwert. Ich denke nicht, dass sie Ehe und Kinder aus feministischen Gründen abgelehnt hat, sondern einfach, weil es nicht in ihren Lebensplan gepasst hat. Sartre hat Beauvoir sogar einmal vorgeschlagen, zu heiraten, damit sie gemeinsam als Lehrkräfte am selben Ort arbeiten können – was im Öffentlichen Dienst in Frankreich nur ging, wenn man verheiratet war - , aber Beauvoir hat das abgelehnt. Wissen-wollen, Erfahren-wollen, Schaffen-wollen waren ihre Anliegen.

Sie und Sartre haben auch lange keinen eigenen Haushalt geführt, hauptsächlich in Hotels gewohnt und viel Zeit in Cafés verbracht. Durch diese Art zu leben, haben sie sich nicht mit Besitz belastet, der sie ihrer Meinung nach gehemmt und blockiert hätte. Besitz lehnten sie aber auch durch ihre Nähe zum Sozialismus ab. Sie waren beide sehr bescheiden, hatten keine hohen materiellen, aber sehr hohe intellektuelle Ansprüche. Man kann aber sicher nicht sagen, dass Beauvoir ein eigenes Heim abgelehnt hätte, weil es bürgerlich war, einen Haushalt zu führen.

dieStandard.at: Beauvoir gilt als großes Vorbild für die Frauenbewegung, in ihrer Beziehung zu Sartre ordnet sie sich und ihre eigenen Interessen aber häufig unter...

Susanne Moser: Ich glaube nicht, dass sie ihre Interessen unterordnete, ganz im Gegenteil, die Beziehung zu Sartre erlaubte ihr den intellektuellen Austausch, der ihr wichtig war. Inwieweit der "Pakt", den sie mit Sartre schon in sehr jungen Jahren schloss, einer klassisch-bürgerlichen Verhaltensweise entsprach, kann ich nicht sagen. Es war jedenfalls eine freie Partnerschaft mit all den Dreiecksbeziehungen, was für sie oft nicht leicht war, aber trotzdem hat sie das alles akzeptiert. Trotz all ihrer Selbstständigkeit und Unabhängigkeit war die Beziehung zu Sartre für sie der Eckpfeiler ihres Lebens, ohne ihn konnte sie sich ein Leben nicht vorstellen. Die intellektuelle Verbundenheit mit ihm ging ihr über alles, bis ins Alter hinein. Ich glaube nicht, dass er sie je abgewertet, sondern, im Gegenteil, dass er sie gefördert hat – allerdings auch andere Frauen.

dieStandard.at: Was genau war es, was "Das andere Geschlecht" für die neue Frauenbewegung später so revolutionär gemacht hat? Warum hat das Buch, das 1949 erschienen ist, nicht schon früher für Aufsehen gesorgt?

Susanne Moser: Ich denke, die Zeit dafür war noch nicht wirklich reif. Erst mit der neuen Frauenbewegung hat ein Selbsterfahrungsprozess, ein Bewusstwerdungsprozess, bei den Frauen eingesetzt, sie haben eine eigene Sprache für sich entdeckt und sich ausgetauscht. Ich finde, dass ihr Werk alle Fragen aufwirft, die den Feminismus, auch im akademischen Diskurs, immer noch herumtreibt, weil es bei ihr nicht nur, wie in der ersten Frauenbewegung, um die Gleichstellung der Frauen geht, sondern sehr stark auch um Dekonstruktion: Es geht um Fragen wie "Gibt es überhaupt Frauen?" oder "Was ist eine Frau?".

Beauvoir nimmt die ständig vorhandene Problematik innerhalb des Feminismus zwischen Gleichheit und Differenz vorweg – sie hatte sicher von beidem etwas: Man kann sie nicht in die Schublade einer Gleichheitsfeministin stecken, weil sie ja auch verlangt hat, dass Frauen sich ihre Kleider selbst schneidern sollen und fragte, was es denn bedeuten würde, Frau zu sein. Aber – und das ist wahrscheinlich das Radikale – sie hat das Frausein entkoppelt von der Biologie: Sie hat es als soziales Konstrukt, als soziale Rolle gesehen – das steckt auch in ihrem berühmten Satz "Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird dazu gemacht."

Sie hat jedoch auch immer betont, dass der Existenzialismus eine Lehre der Authentizität ist, und authentisch zu sein, heißt, immer auch auf die Situation zu schauen, in der ich stecke: Es wäre unauthentisch, sein Frausein zu verleugnen. Das Geschlecht bestimmt mich aber nicht zur Gänze, sondern ist ein Ausgangspunkt, eine Situation: Ich habe die Wahl, was ich daraus mache. Ich muss mich nicht als "Opfer Frau" sehen, sondern ich kann meine Situation überschreiten und etwas daraus machen. Das Grundcredo lautet: Ich kann immer noch etwas daraus machen, was aus mir gemacht wurde. Allerdings brauche ich dafür auch ein förderliches Umfeld.

dieStandard.at: Was bedeutet für Simone de Beauvoir Frausein?

Susanne Moser: Beauvoir vertritt einen radikalen Anti-Essenzialismus: Frausein ist kein "Ding" wie ein Tisch oder ein Sessel, dessen Essenz oder Wesen man festlegen kann. Frausein ist nicht aus einer "Natur der Frau" ableitbar, Beauvoir hat es immer abgelehnt das Frausein zu definieren , weil man dann so etwas wie eine weibliche Natur annehmen müsste.

dieStandard.at: Simone de Beauvoir hat sich trotz ihres Einsatzes für den Feminismus selber angeblich nie als Feministin bezeichnet und gesehen – warum nicht?

Susanne Moser: In den 70er-Jahren, als sie in der Frauenbewegung mitgemacht hat, hat sie sich dann schon zum Feminismus bekannt. Ursprünglich hatte sie gedacht, dass der Sozialismus die Frauenfrage lösen würde, dann hat sie aber gesehen, dass die Frauen selbst die Dinge in die Hand nehmen müssten. Dem Differenzfeminismus der 1980er Jahre gegenüber war sie sehr kritisch, damit hat sie sich nie identifiziert. Sie hat immer gesagt, es sei gefährlich, die Weiblichkeit zu betonen, weil man damit wieder auf die Schiene komme, die weibliche Natur anzunehmen. Für mich war sie fast schon postmodern, denn es ging ihr um DifferenzEN, nicht um die eine Differenz zwischen den Geschlechtern.

dieStandard.at: Wie aktuell sind Beauvoirs feministische Thesen heute noch?

Susanne Moser: Ich finde sie heute an allen Ecken und Enden wieder: Wir leben ja, wie ich vorher schon erwähnt habe, in einer radikal-existenzialistischen Zeit.

dieStandard.at: Können Sie ein Beispiel nennen?

Susanne Moser: Beauvoir sah zum Beispiel nie die endgültige Lösung für die Frauen in der Berufstätigkeit - wie das heute im Ansatz vertreten wird, wenn es um die Vollzeitbeschäftigung von Frauen geht -, aber sie hat es als einzige Möglichkeit aus der Abhängigkeit gesehen. Es ging ihr um die Existenzsicherung der Frau und damit um ihre Unabhängigkeit vom Mann. Gleichzeitig hat sie gefordert, dass die Verantwortung für die Kinder nicht alleine bei den Frauen liegen soll und sich gegen die Zwangsreproduktion eingesetzt. Es war ihr wichtig, dass Frauen zwischen Beruf und Kindern wählen können – was heute durch die Pille ja möglich geworden ist. Mutterschaft und Arbeit waren für sie kein Widerspruch, wenn es gute Kinderversorgungsplätze gibt. Beauvoir hat die Frauen aufgerufen, sich selber Ziele, Projekte und Zwecke zu setzen und etwas aus sich zu machen.

dieStandard.at: Simone de Beauvoir ist ja als "Tochter aus gutem Hause" aufgewachsen – welche Einstellung zu Frauen und Arbeit bekam sie selbst zuhause vermittelt?

Susanne Moser: Beauvoir beschreibt, dass ihre Mutter, wie bürgerliche Frauen überhaupt, stolz darauf war, nicht, wie die Proletarierinnen, arbeiten zu müssen. Nach dem ersten Weltkrieg hatte die Familie jedoch sehr viel verloren und lebte an der Grenze der Armut. Simone de Beauvoir musste also arbeiten gehen, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Der Vater hat sich immer große Vorwürfe gemacht, dass er seiner Tochter nicht die nötige Aussteuer geben kann und sie deshalb arbeiten gehen muss. Sie selbst hat das aber als sehr angenehm empfunden.

In ihren "Memoiren einer Tocher aus gutem Hause" beschreibt Beauvoir, dass ihre beste Freundin, die auch aus einer großbürgerlichen Familie stammte, verheiratet hätte werden sollen, obwohl sie selbst gerne Schriftstellerin geworden wäre. Diese Freundin stirbt dann, was Beauvoir sehr mitnimmt: Sie fühlt sich schlecht, weil ihrer Freundin das "freie" Leben ohne großbürgerliche Pflichten nicht vergönnt war, ihr selbst aber schon – sie erlebt es fast so, als hätte sich die Freundin dafür geopfert, dass sie ihre Freiheit hat. Meinem Empfinden nach hat Beauvoirs Selbstwert als Frau durch ihren bürgerlichen Hintergrund, in dem Frauen oft ausgeschlossen und zurückgesetzt wurden, nie gelitten.

dieStandard.at: Im Marxismus wird Reproduktionsarbeit nicht als etwas Produktives, sondern als ein Naturprozess betrachtet. Simone de Beauvoir hat das zwar angesprochen, aber die Mutterschaft für sich selbst immer abgelehnt, was ihr vielfach vorgeworfen wird...

Susanne Moser: Das stimmt, Beauvoir selbst ordnet die weiblichen Reproduktionstätigkeiten der Immanenz und nicht der Transzendenz zu, sie hat aber dann wieder Ansätze, in denen sie sagt, Mutterschaft könnte auch ein Entwurf sein.

Das ist aber nicht allein ihre Schuld. Die Gründe dafür liegen tiefer. Das Problem der Moderne liegt darin, dass die Kluft zwischen Natur und Kultur immer größer wurde, etwas nur mehr dann einen Wert hatte, wenn es produziert wurde und nicht schon von Natur aus vorhanden war. Familie sollte als Relikt des Paradieses oder eines Naturzustandes zwar bewahrt bleiben, zugleich wurde diesem Relikt aber nicht der gebührende Wert gezollt. Frauen bekommen nicht dieselbe Achtung, sie werden nicht als voll rechtsfähiges Subjekt gesehen, und so weiter. Das hat etwas Paradox-Schizophrenes, unter dem wir noch heute zu leiden haben. (Isabella Lechner, dieStandard.at, 7.1.2008)