Wahrscheinlichkeiten

Eine niederländische Ärztin, eine polnische Kunststudentin und eine belgische Arbeitslose haben auf den ersten Blick nicht allzu viel gemeinsam bis auf das Geschlecht. Sie hätten sich aller Wahrscheinlichkeit zufolge im "echten" Leben nicht getroffen und keine Beziehung etablieren können. Aber auf Azeroth und Draenor gelten andere Wahrscheinlichkeiten.

Die drei kennen sich aus dem MMORPG (Massive Multiplayer Online RolePlaying Game) "World of Warcraft", das aktuell von etwa acht Millionen Menschen weltweit gespielt wird. Rekord. Es ist damit zu rechnen, dass die Schar der WoWler/innen noch größer wird, nicht zuletzt durch einen gesteigerten Bekanntsheitsgrad, der durch taufrische TV-Werbespots mit Mr. T oder William Shatner erreicht werden soll.
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World of Women

Das Massenpotenzial des Spiels liegt an den vielfältigen Konstellationen, die das Fantasy-Setting mittels dichter Geschichte einbringt. Und wen das weniger interessiert: Besiege deinen Feind bevor sie/er dich und deine Verbündeten vernichtet. Dabei nutzt jede wählbare Spielklasse ihre Fähigkeiten, und oftmals ist ein Zusammenspiel selbiger unumgänglich, die soziale Komponente ist gegeben.

Unter den Millionen SpielerInnen gibt es überdurchschnittlich viele Frauen: Optimistische Schätzungen gehen von einem Spielerinnenanteil von dreißig bis vierzig Prozent aus - nur Die Sims sind demzufolge bei Mädchen und Frauen noch beliebter. Um die zwanzig Prozent Frauenanteil dürften wohl realistischer sein - dennoch, WoW ist auch dann noch eine World of Women, verglichen mit anderen Spielen, wenn sie nicht gerade zu den klassischen Sandbox Games neuerer Art wie Second Life zählen.

Aber warum zocken die Frauen gerade WoW?
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Initialzündung

"Zufall", meint Ärztin G., die sich davor nicht mit anderen Spielen aufgehalten hat. Der Zufall hat in diesem Fall einen Namen: Robert, ihr Freund. Während er sich für WoW zunächst nicht erwärmen konnte, testete sie das Spiel an und es ward um sie geschehen. Da wäre einmal die freundliche, cartooneske Darstellung des Environments und der Spielcharaktere - böse Zungen sprechen von niedlicher Überzeichnung. In WoW ist selbst das Volk der Untoten keine äthetische Herausforderung für zarte Gemüter.

Viele Frauen - die meisten - haben ebenso wie G. keine einschlägige Zockerinnenkarriere hinter sich, wenn sie Azeroth entdecken. Ein Blick auf den Bildschirm über die Schulter des Partners, des Sohnes, einer Freundin hinweg war eben oftmals der Moment der Initialzündung, das Spiel selbst antesten zu wollen - und da hat der optische Eindruck der sich eröffnenden Welt im Kastl eine wesentliche Rolle gespielt.

G. liebt Zwerginnen, von welchen sie auch gleich zwei in Petto hat, auf Höchsstufe. Sie entspricht damit nicht dem Massengeschmack, viel öfter werden Menschenfrauen oder Nachtelfinnen gewählt, die mit ihrer markanten Brustpartie und Wespentaille wichtige Klischees vom Frauenkörper erfüllen und damit überzeugen. Und reichen diese Merkmale nicht aus: Im Notfall finden sich auch Gegenstände im Spiel, die die totale Akklimatisierung festgefahrener WeiblichkeitsvertreterInnen - und/oder -verehrerInnen garantieren. Nudelholz und Blumensträuße inklusive.
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Gegenentwürfe

Dass stereotypisierter Darstellung keine unwesentliche Rolle im Spiel zukommt, dürfte auch erklären, warum sehr wenige weibliche Orks gespielt werden. Sie ist mit die Abstand die Unbeliebteste, unverdient. Ihre Sprüche sowie ihr Äußeres markieren den am weitesten vom Geschlechterstereotypen entfernten WoW-Auftritt: "Don't talk. Just follow me." oder "Let's not ruin this moment with chit-chat." sind zwei ihrer Voice Emotes, ihr Körper ist muskulös, und auf eine schnieke weibliche Haarpracht kann auch verzichtet werden.

Aber: Hinter jedem weiblichen Charakter ist erst einmal ein männlicher Player zu vermuten, Gender Bending ist ein inhärentes Phänomen ingame. Männer spielen ungleich öfter einen weiblichen Charakter als Frauen sich einen männlichen zulegen - eine von zwei weiblichen Figuren wird von einem Mann gespielt, einer von hundert männlichen Chars von einer Frau.

Die Vernachlässigung der Orkinnen et.al. liegt also weniger an der Eitelkeit der Frauen, aufgehübschte Menschen mit großen Brüsten zu spielen als in der Erwartungshaltung der männlichen Mehrheit. Ein Vorurteil, das Studentin V. bestätigt, spielt sie doch eine schamanistische Orkin. Und eine Nachtelfische Druidin, zum Ausgleich.
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Sexuelle Belästigung

Einen weiblichen Charakter zu wählen, konfroniert die SpielerInnen ab und an mit den Auswüchsen einer sexistischen Umwelt: Sexuelle Belästigung passiert auch im Spiel. Die Belgierin auf Jobsuche, A., weiß davon zu berichten. Auf ihrer Ignorier-Liste (eine Option, mit der sich Spieler/innen vor unliebsamen oder ärgerlichen Kontakten schützen können) finden sich zahlreiche Namen. Aber, betont, A., die Mehrheit der Spieler sei weder frauenfeindlich oder nur aufs Anbaggern aus.

Für männliche Spieler mit virtuellem Frauenleben stellt dieses Harrassment eine Erfahrung dar, die sie im Real Life nicht so schnell machen würden [und schon gar nicht im Schlimme-Wörter-Ausblend-Modus - "Profanity Filter" - wie hier (nicht) zu sehen].
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Rollenklischees

Dass sexuelle Belästigung stattfindet, liege laut A. auch nicht an so mancher Rüstung, in die man reingezwängt wird und letztlich recht verwundbar zu bleiben scheint gemessen an der blanken Haut: Wer ein sexistisches Weltbild habe, wird es auch ingame nicht ablegen, meint A., die auch auf die Jugend der Mehrheit der Spieler verweist.

Die zumeist männlichen Designer haben einige Steilvorlagen an Klischees abgeliefert, keine Frage. Aber eben nicht nur. Oberfläche hin oder her - was eine/n verleitet, ingame zu bleiben, sind die Möglichkeiten der Interaktion in der virtuellen Welt und die unvorbelastete Spielsteuerung. Jede/r kann ihren/seinen Rythmus finden, sich dem Spiel anzunähern. Die Einstiegshürden sind niederschwellig bis gar nicht vorhanden, wenn nur die Rechnerleistung passt. Im Gegensatz zu First Person Shooters oder Action Adventures bieten Rollenspiele Entscheidungsfreiheiten und -möglichkeiten, was die Charakterentwicklung anbelangt: Bei welcher Fraktion will ich meinen Ruf verbessern, welchen Aufgaben will ich mich stellen, welche Berufe will ich erlernen, mit wem will ich zusammenspielen.
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Zeitfaktor

Nicht nur eine Strategie funktioniert zur Lösung einer Aufgabenstellung, wenn das auch im "End Game" (wo keine Erfahrungspunkte mehr zu erreichen sind, weil man auf der letzten Stufe der Charakterentwicklung angelangt ist) relativiert wird - dort erwarten eine/n Monster, deren Bezwingung nur durch ausgeklügelten taktischen Einsatz zu bewerkstelligen ist, was einiges an Zeit und Geduld erfordert. Und Zeit. Viel Zeit.

Und wenn frau wie die niederländische Ärztin, die als zwergischer Paladin auch ingame ihr Bestes bei der Heilung ihrer Mitspieler/innen gibt, Beruf und Umzug, Familie oder anderen Obligationen nachkommen muss, kommt die Frage nach der Vereinbarkeit auf.
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Alter

Auch die Studentin findet nur an Randzeiten die Zeit, sich um ihre Charaktere zu kümmern. A. hingegen gibt zu, sich eingedenk ihrer derzeitigen Erwerbslosigkeit im Spiel stark zu engagieren: Als Ausgleich zur realen erzwungenen Aufgabenbefreitheit gewissermaßen. Und zur vergleichsweise kostengünstigen Weltflucht, die sie mittels ihrer jagenden Nachtelfin erlebt.

Durchschnittlich verbringen beide Geschlechter etwa 22 Wochenstunden online. Gröbere Differenzen lassen sich beim Alter festellen: Während die meisten der männlichen Spieler zwischen 12 und 28 Jahre alt sind (also im Schüler-/Studierendenalter), liegt das Durchschnittsalter bei Frauen um die 30, das Einsteigsalter liegt bei rund 23 Jahren.
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Die Frage, ob die drei Frauen nach zwei Jahren und mehr Spielerfahrung nicht ans Aufhören denken, verneinen alle. Aber: Der Zauber ist verflogen, die Charakterentwicklung, der Erwerb von Rüstungsgegenständen und Waffen steht im Vordergrund. So hält auch die Realität in der virtuellen Welt Einzug.

Links:

World of Warcraft

the daedalus projekt - Forschungsprojekt inklusive handlicher Statistiken zu MMORPGs

wowwiki

Easter Egg:
Es gibt kein Cowlevel....oder doch?
Nein. Es gibt im Gegensatz zu Diablo nur friedfertige Kühe in WoW. Und manchmal auch fliegende Tiger! (red)
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