Ein Strommast als Drachentöter? Da kann Herr Haji Wan Hussin Ibrahim nur milde-verzeihend lächeln. In bunten Papierfetzen flattert das gute Stück des Meisterdrachenbauers nämlich zwischen den straffen Elektroleitungen seines schmucken Pfahlbauhäuschens und trudelt schließlich jämmerlich raschelnd in Richtung Nachbargarten. Nein, daran ist jetzt nichts mehr zu ändern: Der Wau ist hin, der Wind war schuld, und vielleicht schon auch ein wenig die Tölpel aus der fernen Hauptstadt, die jetzt noch immer verlegen mit ihren Gummisandalen im Rasen scharren und mit leeren Händen fassungslos nach oben starren. Der bleiche Himmel und Herr Ibrahim starren auf sie zurück. Die seidenpapierenen Reste des losgelassenen Flugdrachen sowieso.

Gelohnt hat sich die volkskundliche Exkursion der extra aus Kuala Lumpur angereisten Kunststudenten aber trotz des kleinen Missgeschicks. Schließlich knieten sie am frühen Morgen schon in der ältesten Moschee des Landes, der Masjid Kampung Laut, die erst vor kurzem von ihrem Hochwasser-gefährdeten alten Platz am Kelantan River ins immer trockene Dörfchen Nilam Puri gekarrt wurde. Und auch der Besuch im Fischerdorf Dasar Sabak erwies sich als echter ethnographischer Tip: Schwebten die kunstvoll geschnitzten Naga-Schlangen und Garuda-Vogelköpfe am Bug der bunt bemalten Auslegerboote doch tatsächlich durch Dasar Sabaks verschwiegene Lagune - rot und gelb lackierte Versicherungspolizzen gegen die Dämonen des launischen südchinesischen Meeres. Nicht zu vergessen schließlich die Visite bei Drachenbaumeister Wan Hussin Ibrahim, der drinnen, im kleinen Atelier, noch einige weitere Papierdrachen-Schnittmuster auf Lager hat. Den knallig roten Mond-Wau beispielsweise, der neben zwei buckeligen Katzen-Waus nun sicherheitshalber an der Wand hängen bleibt - wohl auch, weil seine Form ohnehin längst jeder kennt: Als rotblaues Logo der Malaysian Airlines segelt das Ding, auf zahlreiche Jumbo-Jet-Bäuche gepinselt, um die ganze Welt. Corporate Identity Design aus Kelantan.

Nein, vergessen haben die Malaien ihre alten Ostküsten-Kunsthandwerker nicht. Weder die Schattenspieler, deren lederne Puppen zum Stakkato der indischen Götterepen lange, spitze Nasen machen, noch die gerühmten Meisterschnitzer, Riesentrommeln und Papierdrachen-Artisten. Home is where your Wau is - davon träumen vielleicht selbst noch die Bosse des ausufernden, entfernten Kuala Lumpur, die ihre Sarongs und Batikhemden längst gegen steife Nadelstreif-Anzüge eingetauscht haben und sich lieber an gigantomanischeren Spielereien erfreuen. Am protzigen Turmbau der Petrona Twin Towers etwa, die sich wie eine Chrom-Glas-Doppelrakete im Business-Zentrum der malaysischen Hauptstadt einparken. Kalt, abweisend spiegelnd, von Pocketkamera-Blitzen und bunt illuminierten Springbrunnen-Strählchen umgarnt. Und vollgestopft mit Designer-Klamotten und französischen Delikatessen, wie es sich für das größte Haus der Welt eben gehört.

Doch ob sich die Bosse der größten nationalen Unternehmen zwanzig, fünfzig oder fünfhundert Stockwerke in ihre prestigeträchtigen Vorstandsbüros hoch katapultieren, spielt für die meisten Menschen an der Ostküste keine wirkliche Rolle. Ohnehin kann man das hohe Haus der malaysischen Ölmagnaten von hier aus nicht sehen. Schon gar während der Zeit des Monsun, der immer neue, fette Wolkenbäuche vom Osten herschiebt und morgens gegen die grünen Bergflanken des Hinterlandes quetscht und reibt, so ähnlich, wie die verschleierten Frauen der kleinen, traditionellen Kampungs das an den Flüssen mit der Wäsche tun. Und etwas verstohlener mit der Unterwäsche. Der politische Druck der hier dominierenden Islamisten beeinflusst neben der städtischen Mittelschicht auch den Alltag ruraler Gemeinden.

Marang ist so ein Dorf. Dass es keine besonderen Sehenswürdigkeiten aufzuweisen hat, erleichtert lediglich den Blick auf seine Reize. Ein riesiger Beton-Oktopus rollt an der Hauptkreuzung seine Tentakeln und Saugnäpfe aus, grabscht nach unaufmerksamen Vespa-Lenkern und schnatternden Schulmädchen, die hier jeden Nachmittag in langen, blauen Röcken und weißen Kopftüchern vorüber radeln, ohne dem Monster der lokalen Fischerei-Kooperative einen Seitenblick zu schenken. Spitzgiebelige Pfahlbauten mit gemütlichen Veranden spiegeln sich im stillen Wasser der Lagune, umzingelt von Hühnern, Ziegen, dem starken Geruch von Fisch. Die billigen Mangroven am Ende der Bucht hat längst ein findiger Unternehmer aufgekauft und in ein selbsternanntes Eco-Resort verwandelt - mit kleinen Bungalows zwischen spitzen, graugrünen Atemwurzeln, die wie das Wasserbett eines Fakirs aus dem flachen Tümpel ragen.

Unten am Hafen werden allabendlich frische Bananen im Reismehl heraus gebraten und in den lokalen Kaffee eingetunkt, dazu über den immer lästigeren Autoverkehr diskutiert. Ruhig verlaufen die Tage hier trotzdem, schon gar jenseits der viel befahrenen Hauptstraße Richtung Singapur. Gelegentlich tuckert einer der bunten Dieselkutter den hier einmündenden Marang River hinauf, scheucht Warane beim Sonnenbaden auf und verdient sich im Idealfall mit vereinzelten Touristen an Bord einige schnelle Ringgits.

Wer der Ostküste auf die Schliche kommen möchte, hat freilich noch andere Möglichkeiten, etwa Kota Bharu, die größte Stadt der Ostküste. Nicht nur, weil die Verkäufer der Markthalle Pasar Besar - der farbenprächtigsten Malaysias - den Fremden dort bereitwillig die lange Fischwurst Keropok Lekor unter die Nase halten, sondern auch wegen anderer lokaler Spezialitäten. Ein verstohlener Seitenblick auf Kelantans aristokratische Traditionen, die sich im historischen Residenzviertel des Sultans besonders kompakt präsentieren, verrät mehr dazu: Filigrane Holzschnitzereien zieren die dortige Staats-Moschee und vor allem den königlichen Istana-Jahar-Palast aus dem Jahre 1887 und erinnern dabei auch an jene Tage, als die durch Berge und dichte Urwälder im Hinterland isolierte Region unter der Kontrolle des benachbarten Thailand stand, bis die Briten im Jahre 1909 diesen Status zu ihren Gunsten änderten. Abgeschottet blieb die Ostküste selbst dann noch. Erst im Jahre 1982 wurde der East-West-Highway Richtung Penang fertiggestellt, und noch in den 70er Jahren waren viele der Fischerdörfchen nur vom Meer her erreichbar, und während der Monsunzeiten so gut wie gar nicht.

Erfrischend ist die Visite der lebhaften 1,4-Millionen-Stadt aber auch nach der 600 Kilometer langen, paradiesisch anmutenden Monotonie zwischen Mersing und Kota Bharu. Palmen vor blauem Himmel, Palmen als Spiegelbild der zahlreichen Lagunen, Palmen, zwischen denen die Sarongs der Fischer an der Trockenleine flattern, - so gestaltet sich der Trip über weite Strecken, stets flankiert von einem kaum unterbrochenem Strand, dessen Sand mitunter die Farbe wechseln mag, der aber ansonsten als touristisches Leitmotiv der Region unermüdlich am Wagenfenster vorüber flitzt. Klar, manche Ecken fallen auf die eine oder andere Art heraus aus der gleichmäßigen Idylle. Malaysias größte Ölraffinerie beispielsweise, die bei Kerteh mit dicken, gleißenden Röhren am Sonnenstrand schmort. Doch die Erschließung der riesigen Offshore-Ölfelder, die Terengganus Industrialisierung einleiteten, sind längst nicht mehr die einzigen Hinweise auf die langsame Erosion der traditionellen Ostküsten-Atmosphäre. Eintönig strecken sich gigantische Palmölplantagen über weite Strecken des Hinterlandes und beknabbern die Ränder des dahinter versteckten alten Waldes von Malaysia, jenem Dschungelgebiet des Taman Negara, das nach 150 Millionen Jahren Eiszeit-Abstinenz heute als ältester und artenreichster Urwald der Erde gilt.

Besser fügt sich da Kuantan, die neue Boomtown der Ostküste, in die aktuelle Entwicklung ein. Chinesische Läden im 30er-Jahr-Pastell und eine arabisch anmutende, erst vor fünf Jahren eröffnete Moschee, montieren sich im Herzen der Stadt zum Puzzle des modernen malaysischen Staates. Ein wenig anders fällt dieses im benachbarten touristischen Ort Cherating aus, in dem Beachboys auf Leihmotorrädern, im obercoolen Idealfall mit verspiegelter Sonnenbrille und poppigem Seidenhemd, heran rasen. Etwas behäbig bewegen sich Badehosen-Athleten und Bikini-Schönen vor dem bleigefassten Horizont des Monsunhimmels, der hier gar nicht auf die Stimmung drückt. Schließlich halten die vielen improvisierten Pubs all das, was Cherating und der Rest der Ostküste seit Jahrzehnten versprechen: Easy going. Easy beaching. Easy easing.

Am leichtesten fällt dies trotzdem an entlegeneren Orten, die sich vor der Küste verteilen und seit jeher als Aussteiger-Flüstertip kursieren. Pulau Tioman, die größte der vorgelagerten Inseln, tut dies mittlerweile mit einem eigenem, viel frequentiertem Mini-Flughafen und entsprechender Popularität. Bereits in den 50er Jahren entdeckten Hollywood-Filmer hier das perfekte Szenario für die mystische, einsame Zauberinsel des Musicals South Pacific. Reizvoll ist die Komposition des über 1000 Meter hoch aufragenden Gunung Kajang, an dessen steilen Hängen der Dschungel bis zum schmalen Küstenstreifen kriecht, bis heute. Zwar wurden die umliegenden Korallenriffe längst als "Tioman Marine Park" unter Naturschutz gestellt, doch wirklich unbeobachtet können sich Robinson & Robindaughter hier längst nicht mehr fühlen. Ein kleiner Golfplatz am anderen Ende der Insel und hartnäckig betonierte Wanderwege sind dafür Indizien genug.

Andere Inselchen können da in die Bresche springen. Pulau Aur beispielsweise, das weit draußen im südchinesischen Meer mit simplen Hütten, einem Wrack und geruhsamen Spaziergängen in vorgelagerten Korallengärten aufwarten kann. Oder Pulau Perhentian, das mit unverbrauchter Tropenromantik aufwartet, also mit schneeweißen Palmenstränden neben türkisgrüner See und bunten Muscheln, die sich wie Konfetti über die Beach verstreuen. Schwarze Felsen verquirlen nebenan die Gischt. Romantische Stromausfälle und die Himmelszuckungen des Tropenleuchtens ergänzen am Abend das touristische Exil. Wie bei einer großen grünen Neonröhre flackern die Lichter am samtig schwarzen Firmament. Gleichmäßig donnert der Wellenschlag der Brandung gegen den weichen Sand. Von der gegenüber liegenden Fischerinsel Pulau Perhentian Kecil glitzern die verzinkten Dächer der Moschee und der Pfahlbauhäuser herüber. Kampung sweet Kampung. (Der Standard, Printausgabe)