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Der Befreiungstheologe, Poet und Revolutionär Ernesto Cardenal

Foto: Archiv

Ernesto Cardenal ist seit Jahrzehnten ein Idol für europäische Linke und Katholiken. Jüngst mehren sich Berichte über fragwürdige Geschehnisse in seinen Sozialprojekten in Nicaragua. Darauf eingehen will Cardenal nicht.

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Weißer Bart und Baskenmütze sind sein Markenzeichen. "Poet, Priester und Revolutionär" sei er, sagt Ernesto Cardenal aus Nicaragua. Eine Mammut-Tournee hat der 77- Jährige gerade hinter sich. 20 Tage, über 10.000 Kilometer Fahrt, Lesungen in Deutschland, der Schweiz und Österreich. Als sozial engagierter Dichter wurde der Alt-Linke präsentiert, als Ikone der Befreiungstheologie. Ein Etikettenschwindel, wie sich zeigt.

Auf dem Programm der Lesereise standen "Die Jahre in Solentiname", Cardenals Memoiren: Erinnerungen an die fruchtbare Arbeit mit einer Basisgemeinde aus Bauern und Fischern auf einem abgeschiedenen tropischen Archipel. Gesammelt haben der Padre und sein Begleiter Dietmar Schönherr bei ihrer Tour auch Spenden für Hilfsprojekte in Nicaragua.

In den Sechzigerjahren sei Solentiname fast das Paradies gewesen, berichtete Cardenal: eine Kommune als Ort der Besinnung, der Poesie und der Solidarität mit den Ärmsten der Armen. Über die gegenwärtige Lage auf den Inseln verlor der Poet beim Schreiben und Lesen indes kein Wort. Und dies aus gutem Grund. Derselbe Expriester, der immer "Hass in Liebe" verwandeln wollte, sorgt daheim heute für Angst und Zerstörung.

500.000 Dollar

Sein Archipel im Süßwassermeer des Großen Sees von Nicaragua schaut noch immer aus wie zur Zeit von Diktator Somoza. Strom, Straßen, fließendes Wasser oder Brunnen, Telefon, Arzt, Polizei, Behörden gibt es nicht. Beherrscht wird die Inselgruppe von der 1982 gegründeten "Assoziation zur Entwicklung Solentinames" unter Vorsitz Cardenals. Über den gemeinnützigen Verein flossen in den Achtzigern - der Padre war damals, nach der Revolution, Kulturminister der sandinistischen Regierung - alle (meist deutschen) Spendengelder, liefen alle Projekte. Gesamtwert: über 500.000 Dollar.

Schon seit Jahren gibt es nun auch in deutschsprachigen Medien sporadisch Berichte über Verwüstungen und Gewaltexzesse auf Solentiname, begangen von Mitgliedern des Vereins. Doch das Ausmaß des Desasters erschließt sich erst bei einem Besuch. Vom Aufbauwerk der Achtziger blieben nur Ruinen. Spielzeugfabrik, E-Werk, zwei größere Schiffe - ausgeschlachtet. Maschinen und Generatoren - verkauft. Das Geld - verschwunden.

Knüppel und Macheten

Auf den Resten einer Landschule wurde zu Beginn der Neunziger ein Hotel errichtet, um dessen Nutzung seit mittlerweile sieben Jahren ein erbitterter Streit zwischen Verein und Pächterin tobt. Ein Gerichtsverfahren ist in Juigalpa anhängig. Der Verein suchte den juristischen Zank im März 2002 auf seine Weise zu beenden, indem er Teile der Hüttenanlage von einem Schlägertrupp besetzen und demolieren ließ. Wann immer ausländische Gäste in das Hotel kommen (zuletzt im September und November), werden sie von Männern der Assoziation mit Knüppeln, Macheten und Schusswaffen vertrieben. Cardenal nennt die Schläger seine "Wächter".

Und die Campesinos? Leiden. Zu Geld kommen sie nur auf eine Weise: indem sie ihre wunderbar naiven Ölbilder und die aus Balsaholz geschnitzten Tukane und Papageien an Touristen verkaufen. Keine Touristen - kein Einkommen. Seit sieben Jahren. Zeugnis des Paulo Antonio Aguilar Sevilla, 45, Kunsttischler: "Cardenal droht, Familien aus ihren Hütten zu werfen. Wer ihm widerspricht, wird vor den Richter zitiert. Wie ich. Man bekommt eine falsche Anzeige, noch eine und noch eine. So hat er erreicht, dass Leute fortgezogen sind, bis nach Costa Rica."

Zeugnis der Lidia Castillo, 30, Schnitzerin und Besitzerin eines Kramladens mit Ausschank, zweifache Mutter: "Ich bin einmal im Gefängnis gewesen, in der Stadt San Carlos, eine Woche lang. Es war grauenvoll ... Die Anzeige? Kenne ich nicht. Auf Solentiname herrscht ein Psychokrieg. Wir haben Ernesto um ein Gespräch gebeten, aber er wollte nicht. Er ist viel auf Reisen."

Zeugnis des Schnitzers Emilio René Oporta: "Am 14. September kam eine Gruppe Touristen. Ich half, die Koffer raufzubringen. Männer des Vereins stellten sich in den Weg. Einer sagte: Bleib stehen oder ich bringe dich um. Und dann, pamm!, hat er geschossen. Ein Streifschuss, hier, an der Schläfe." Nichts habe der Verein für das Dorf getan, fügt Emilio hinzu, ein schmaler Mann mit leiser Stimme. "Wer etwas anderes sagt, der lügt."

Drei neue Schulen

Aber doch: Entwicklung hat es gegeben. Für die Mitglieder von Cardenals Assoziation. Die besitzen heute Häuser in guten Wohnlagen der Hauptstadt Managua. Ernestos Kirche auf Solentiname (einst Ort der Bibelgespräche) sowie die Bauten seiner Kommune strahlen in neuem Glanz. Und derzeit lässt der Verein drei kleine Schulen errichten, für wenig Spendengeld. Als Alibi? Die Abrechnung, hört man, soll mustergültig sein. (Uwe Stolzmann/DER STANDARD, Printausgabe, 10.12.2002)