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Stanley Kubrickk (1928-1999) am Set von "A Clockwork Orange" - der US-Regisseur lebte und arbeitete in England.

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Jan Harlan sieht "keinen Anlass, Kubrick posthum zu hintergehen.

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Gut 30 Jahre lang hat Jan Harlan für seinen 1999 verstorbenen Schwager Stanley Kubrick als "Executive Producer" und Berater gearbeitet. Am Wochenende präsentierte er im Österreichischen Filmmuseum in Wien sein Videoporträt "Stanley Kubrick: A Life in Pictures". Claus Philipp sprach mit ihm.

STANDARD: 1999, als Sie "Eyes Wide Shut" kurz nach Kubricks Tod in Wien im Rahmen einer STANDARD-Gala präsentierten, wurde oft gefragt: War der Film tatsächlich fertig?

Jan Harlan: Eines war klar: Kubrick selbst war damit sehr zufrieden. Er hatte ja mit dem Stoff gut 25 Jahre gerungen. Schon 1972 hatten wir die Rechte an der Vorlage, der Traumnovelle erworben. Ich habe danach oft Schnitzlers Nachlass durchforstet.

Und noch eins war klar: Hätte Kubrick länger gelebt als bis eine Woche nach Beendigung des Schnitts, dann hätte er bestimmt während der Mischung – die dann ja ich übernehmen musste – den Schnitt etwas verändert. Auch um der US-Zensur zu genügen. Ich durfte das nicht. Er hätte es natürlich getan: Die umstrittene "Orgie", diese Hieronymus-Bosch-Hölle mit ihren nackten Damen hätte er sicher mehr auf die Voyeur-Position von Tom Cruise zurückgeschnitten. Was aber bleibt: ein ernsthafter Film von einem ernsten Mann – das genügt.

STANDARD: Gab es vor Kubricks überraschendem Ableben bereits Ideen für Folgeprojekte?

Harlan: Das nächste Projekt wäre in jedem Fall Artificial Intelligence (A. I.) gewesen: Mit dem hatten wir 1993 konkret begonnen und es damals Steven Spielberg angeboten.

STANDARD: Was faszinierte Kubrick so an Spielberg?

Harlan: Dass er anders ist als er: ein Märchenerzähler. Spielberg hat sich aber durchaus ans ursprüngliche Konzept gehalten, nichts zu erklären. Das irritierte ja die Leute in Stanleys Filmen oft, bis hin zum Missverständnis. Viele Kritiker beißen sich bei A. I. daran fest, dass da ein kleiner Roboter eine blaue Fee sucht. Aber in Wahrheit geht es darum, dass die Menschheit verschwunden ist. Warum? Egal. Wir sind weg. Überlebt haben nur Maschinen.

STANDARD: Und die Hölle ist: Diese Maschinen könnten uns klonen – und sei es nur für einen fürchterlich perfekten Tag. Harlan: Ja, und dann stehen sie im Kreis um diesen Roboter und freuen sich: Der hat die Menschen gesehen! Wie einst die Archäologen die Goldmaske von Tutenchamon bestaunten. Aber: A. I. erhebt keinen Anspruch auf Realität, sondern auf . . .

STANDARD: . . . Wahrheit.

Harlan: Genau. Es geht um uns. Heute. Und Kubrick wollte das keineswegs erklären. Der große Unterschied: Er wollte für den Jungen keinen Schauspieler, sondern wirklich eine Maschine.

STANDARD: Wenn Sie zuerst von Schnitzlers Nachlass sprachen: Welcher Fundus an "Entdeckungen" und Erkenntnissen wird sich noch bei Kubrick auftun?

Harlan: Er selbst hat sich immer dagegen verwehrt, sein "Labor" durchstöbern zu lassen. Wenn er etwas Interessantes zu sagen hätte, meinte er, dann würde er es in einem Film tun. Und ich sehe keinen Grund, ihn nach seinem Tod zu hintergehen. Es war seine Arbeit, seine Entscheidung – das respektieren wir: ich und seine Frau, meine Schwester Christiane Kubrick.

STANDARD: Es gibt aber doch Ausnahmen in dieser Verweigerungshaltung?

Harlan: Ja, dort, wo es Sinn macht. Sein Projekt zu Napoleon hat er sehr geliebt. Und das Material dazu – darunter allein 18.000 Reproduktionen von Bildern aus der Zeit Bonapartes – ist in jeder Hinsicht sehens- und lesenswert. Ich bereite dazu mit dem Taschen-Verlag einen großen Band vor. Napoleon interessierte Kubrick enorm: Diese ungeheure Begabung – und warum sie nicht genügt hat, um wirklich zum Erfolg zu führen. Jeder dachte: Ein Erneuerer – und dann lief alles daneben, aus Eitelkeit.

Kubrick meinte immer, dass wir uns darüber im Klaren sein müssen, dass wir von unserer Emotion bestimmt sind. Er selbst fürchtete daher immer, in aller Verliebtheit in einen Stoff zu schnell zu sein, zu hastig. Deshalb hat er sich immer eingebremst, verlangsamt. Mit unserem kleinen Team konnte er sich das auch leisten. Eine Woche Dreh an Eyes Wide Shut war immer noch billiger als ein Drehtag bei anderen Hollywood-Großproduktionen.

STANDARD: Aus "Napoleon", der 1969 bereits in Vorbereitung war, ist jedenfalls nichts geworden. Warum?

Harlan: Waterloo mit Rod Steiger kam in die Kinos und war ein Flop. Ich selbst hatte damals ja bereits meinen ursprünglichen Job als Logistiker in der Wirtschaft aufgegeben und sollte etwa helfen, die Kooperation mit der rumänischen Armee zu koordinieren – woraus sich dann unsere Zusammenarbeit bis zu seinem Tod ergab. Vorher habe ich mit meinem Schwager ja "nur" tolle Tischtennismatches geliefert und wunderbare Gespräche geführt.

STANDARD: Konkurrenzsituationen am Filmmarkt haben Sie als Grund für auf Eis gelegte Projekte noch öfter erlebt?

Harlan: Im Fall von Full Metal Jacket hat uns die Tatsache, dass kurz vorher mit Oliver Stones Platoon bereits ein anderer Vietnam-Film in die Kinos gekommen war, zweifelsohne geschadet. Und nachdem wir zwei Jahre lang mit Aryan Papers (basierend auf Louis Begleys Roman Wartime Lies) einen Film über den Holocaust vorbereitet hatten, bedeutete die jähe Konkurrenz durch Schindlers Liste das Aus. Aber Kubrick war da immer sehr pragmatisch. Er meinte, es sei gar nicht so entscheidend, einen Film zu machen. Es würden ja wahrhaftig genug Filme gemacht. Deshalb war er auch immer sein eigener schärfster Kritiker.

STANDARD: Andererseits schien er sich auf Kritiken anderer kaum einzulassen.

Harlan: Öffentlich nicht. Aber profunde Analysen hat er zur Kenntnis genommen. Er sagte nur: Ich arbeite jahrelang an einem Film, und dann setzt sich jemand am Morgen flott in ein Kino und schreibt nach wenigen Stunden einen törichten Artikel: Darüber will ich mich nicht unterhalten.

STANDARD: Wobei Missverständnisse und Ablehnung zuerst fast jeden neuen Kubrick-Film begleitet haben – zuletzt auch "Eyes Wide Shut" und "A. I.".

Harlan: Was aber erstaunlich war: In Japan und in europäischen katholischen Ländern waren sie besonders erfolgreich. In Japan gingen die Paare nach Eyes Wide Shut Hand in Hand aus dem Kino. Das Publikum dort ist überhaupt erstaunlich: Da herrscht bei den Projektionen absolute Stille. Niemand rennt rein und raus. Da liegt nichts auf dem Fußboden.

STANDARD: Ist das nicht eher beklemmend?

Harlan: Ich find's wunderbar. Sowohl bei Eyes Wide Shut als auch bei A. I., die ja beide eher kompliziert sind, wussten die Leute nach nur einer Vorführung genau, worum es geht. Im Westen hingegen vernahmen wir immer wieder das Argument: Das muss man zumindest zweimal sehen. Was soll man dazu sagen? Bei Bildern oder Streichquartetten hört man die Klage, dass man mehrere Anläufe nehmen muss, eher selten. Im Kino aber soll immer alles beim ersten Mal "klappen" – zumindest im so genannten Mainstream-Bereich, wenn es heißt: "Produziert von Warner Bros." (DER STANDARD, Printausgabe, 18.11.2002)