Flucht und Politik
USA fordern Informationen über Gas
108 der 117 getöteten Geiseln identifiziert, 45 der befreiten in kritischem Zustand
Moskau - Die USA haben von Russland nach Angaben
aus Kreisen des US-Außenministeriums Auskunft über den Gas-Einsatz
zur Beendigung des Geiseldramas in Moskau verlangt. Die USA hätten
Russland aufgefordert, Angaben zur Art des Gases zu machen, hieß es
am Montag. Zugleich zeigten die USA Verständnis für das Vorgehen
Russlands zur Befreiung der mehr als 700 Geiseln unter Einsatz von
Gas. Dabei waren am Samstag mehr als 100 Geiseln ums Leben gekommen. Die russischen Justizbehörden haben bis Montagabend fast alle
Todesopfer der Moskauer Geiselnahme identifiziert. Bei mindestens 108
der 117 getöteten Geiseln sei bisher die Identifikation gelungen,
sagte Staatsanwalt Michail Awdjukow laut Nachrichtenagentur Interfax.
Es sei möglich, dass die Zahl der Toten weiter ansteige, fügte der
Staatsanwalt hinzu. 45 der befreiten Geiseln seien in einem
kritischen Zustand.
"Schwieriges Dilemma"
Nach Meinung des Präsidenten seien die Schuldigen die Terroristen,
sagte US-Präsidialamtssprecher Ari Fleischer. Der Sprecher des
US-Außenministeriums Richard Boucher sagte: "Die russische Regierung
stand vor einem schwierigen Dilemma wegen dieser grausamen
terroristischen Handlung." Es habe keinen einfachen Ausweg gegeben.
Der Münchner Toxikologe Thomas Zilker, der zwei deutsche Geiseln
behandelt, sagte, bei dem Gas habe es sich möglicherweise um eine
Abwandlung von Chloroform, ein Narkosegas, gehandelt. Die Verwendung
von Kampfgas sei ausgeschlossen. Peter Hutton von der britischen
Anästhesie-Vereinigung sagte hingegen, er kenne kein Narkosegas, das
in der in Moskau eingesetzten Art und Weise wirke. "Es handelt sich
mit Sicherheit um etwas, das nur vom Militär entwickelt, besessen und
angewendet werden kann", sagte der Mediziner.
Diese Theorie wurde auch vom russischen Chemiewaffenexperten Lew
Fjodorow unterstützt. Das Gas sei vermutlich zum Einsatz gegen
gesunde Soldaten entwickelt worden und nicht gegen Zivilisten, unter
ihnen Schwangere und Kinder. Zudem sei es offenbar zu hoch dosiert
worden. Nach Fjodorows Auffassung hätten Opfer vermieden werden
können, wenn den Geiseln sofort ein Gegenmittel verabreicht worden
wäre. Der britische Sicherheitsexperte Michael Yardley vermutete, bei
dem Gas habe es sich um geruchloses und unsichtbares BZ-Gas
gehandelt, das auf das Nervensystem wirkt und all die Symptome
auslöst, die auch bei den Geiseln festgestellt wurden.
Verhandlungen abgelehnt
Nach Angaben des Chefs der Moskauer Gesundheitsbehörde, Andrej
Selzowski, kamen nur zwei der Geiseln durch Schüsse ums Leben - eine
Frau war zu Beginn der Geiselnahme von den Tätern erschossen worden,
eine Person starb durch Schüsse bei der Befreiungsaktion. Ein
behandelnder Arzt in Moskau kritisierte, die Krankenhäuser seien nur
mangelhaft auf die Behandlung der Geiseln vorbereitet worden. Die
Geiseln seien an ihrem Erbrochenen oder ihrer eigenen Zunge erstickt
oder an Herzstillstand gestorben. Die russischen Behörden machten
bisher keine Angaben zu der Art des Gases.
Der russische Präsident Wladimir Putin lehnte es unterdessen ab,
mit tschetschenischen Separatisten zu verhandeln. Russland werde
keine "Geschäfte mit Terroristen" machen, sagte Putin vor Ministern
am Montag, dem landesweiten Trauertag für die getöteten Geiseln.
Zugleich kündigte er an, dass Russland in angemessener Form reagieren
werde, wenn es mit Massenvernichtungswaffen bedroht werde. Am Rande
einer Tschetschenien-Konferenz in Kopenhagen ließ der Präsident
Tschetscheniens, Aslan Maschadow, Putin erneut Gespräche ohne
Vorbedingungen über die Zukunft der russischen Republik anbieten.
Solche Angebote hat Russland schon in den vergangenen Jahren immer
wieder abgelehnt.
Am Ort des Geiseldramas, dem Musical-Theater in Moskau, legten
Menschen Blumen in Gedenken an die 117 getöteten Geiseln nieder. Zum
Zeichen der Trauer wurden die Fahnen landesweit auf halbmast gesetzt.
In der Zehn-Millionen-Stadt Moskau wurden alle
Unterhaltungsveranstaltungen abgesagt, darunter auch das für Mittwoch
geplante Champions-League-Spiel zwischen Spartak Moskau und dem FC
Basel. (APA/Reuters)