Flucht und Politik
<b>Analyse: </b>Alles eine Frage der Dosierung
Laut Chemiewaffen-Konvention gibt es keine "legalen, nicht letalen" chemischen Waffen - Von Georg Schöfbänker*
Linz - Der russische Medien-
Spin, es habe sich beim eingesetzten Gas im Unterschied zu
"verbotenen chemischen Waffen" um "legale" nicht letale
Narkosemittel gehandelt, ist
irreführend. Die Russische
Föderation ist Mitglied der
Chemiewaffen-Konvention
(CWK), der sie 1993 beigetreten ist. Diese verbietet eindeutig die Entwicklung, den Besitz und den Gebrauch chemischer Waffen. Chemische
Waffen werden definiert als
"jede Chemikalie, die durch
ihre chemische Wirkung auf
die Lebensvorgänge, den Tod,
eine vorübergehende Handlungsunfähigkeit oder einen
Dauerschaden bei Mensch
oder Tier herbeiführen kann". Bei der Definition der Chemikalien gibt es keine Ausnahmen, etwa die Tatsache, dass
bestimmte Substanzen nicht
letal oder weniger letal seien.
Spekuliert wird gegenwärtig über mehrere mögliche
Gruppen von Substanzen. Einerseits Nervenkampfstoffe,
diese sind generell verboten.
Als ein solcher muss auch 3-
chinuclidinyl-benzilat (englisch: 3-Quinuclidinyl Benzilate, Deckname BZ oder QBN)
angesehen werden, den Experten im Zusammenhang mit
Moskau genannt haben. Im
Kalten Krieg wurde der geruchlose, halluzinogene chemische Kampfstoff unter anderem von den USA, Großbritannien und der Sowjetunion
entwickelt. Er wirkt am parasympathischen Nervensystem. Wird er in geringen Dosierungen (100 mg/min/m3)
eingeatmet, sollen 50 Prozent
einer ungeschützten Personengruppe handlungsunfähig
werden.
Eingesetzt wurde BZ angeblich von den Sowjets in Afghanistan, 1992 in Mosambik
und womöglich auch in
Srebrenica. Die tödliche Dosis
(50 Prozent der Betroffenen
sterben) ist 2000fach so hoch
wie jene, die nur zur Handlungsunfähigkeit führen soll
(200.000 mg/min/m3). Wenn
es sich also tatsächlich um BZ
gehandelt haben sollte, müsste man sich um 2000 Größenordnungen geirrt haben:
schwer vorstellbar. Weiters
würde dies bedeuten, dass
vom Einsatz "nicht letaler
Waffen" keine Rede sein kann,
sondern dass man die Tötung
zahlreicher Geiseln implizit in
Kauf genommen hat.
BZ unterliegt überdies noch nach
der CWK, Annex 2
und Teil VII des Verifikationsanhanges "besonderen
Schwellenwerten", was Meldepflicht und Inspektion anbelangt.
Andererseits könnten so
genannte "calmatives", Beruhigungsstoffe, die gegenwärtig
vom Pentagon neu entwickelt
werden, zum Einsatz gekommen sein. Als solche gelten
etwa gasförmiges Valium und
verwandte Substanzen, Fentanyl und neuroleptische Narkosemittel. Aber auch hier ist
alles eine Frage der Dosierung.
Immerhin grenzt das Pentagon
letale von nicht letalen Waffen
so ab: Von "nicht letalen Waffen" könne man nur sprechen,
wenn die Todesrate unter einem Prozent liege.(DER STANDARD, Printausgabe, 29.10.2002)