Linz - Der russische Medien- Spin, es habe sich beim eingesetzten Gas im Unterschied zu "verbotenen chemischen Waffen" um "legale" nicht letale Narkosemittel gehandelt, ist irreführend. Die Russische Föderation ist Mitglied der Chemiewaffen-Konvention (CWK), der sie 1993 beigetreten ist. Diese verbietet eindeutig die Entwicklung, den Besitz und den Gebrauch chemischer Waffen. Chemische Waffen werden definiert als "jede Chemikalie, die durch ihre chemische Wirkung auf die Lebensvorgänge, den Tod, eine vorübergehende Handlungsunfähigkeit oder einen Dauerschaden bei Mensch oder Tier herbeiführen kann". Bei der Definition der Chemikalien gibt es keine Ausnahmen, etwa die Tatsache, dass bestimmte Substanzen nicht letal oder weniger letal seien. Spekuliert wird gegenwärtig über mehrere mögliche Gruppen von Substanzen. Einerseits Nervenkampfstoffe, diese sind generell verboten. Als ein solcher muss auch 3- chinuclidinyl-benzilat (englisch: 3-Quinuclidinyl Benzilate, Deckname BZ oder QBN) angesehen werden, den Experten im Zusammenhang mit Moskau genannt haben. Im Kalten Krieg wurde der geruchlose, halluzinogene chemische Kampfstoff unter anderem von den USA, Großbritannien und der Sowjetunion entwickelt. Er wirkt am parasympathischen Nervensystem. Wird er in geringen Dosierungen (100 mg/min/m3) eingeatmet, sollen 50 Prozent einer ungeschützten Personengruppe handlungsunfähig werden. Eingesetzt wurde BZ angeblich von den Sowjets in Afghanistan, 1992 in Mosambik und womöglich auch in Srebrenica. Die tödliche Dosis (50 Prozent der Betroffenen sterben) ist 2000fach so hoch wie jene, die nur zur Handlungsunfähigkeit führen soll (200.000 mg/min/m3). Wenn es sich also tatsächlich um BZ gehandelt haben sollte, müsste man sich um 2000 Größenordnungen geirrt haben: schwer vorstellbar. Weiters würde dies bedeuten, dass vom Einsatz "nicht letaler Waffen" keine Rede sein kann, sondern dass man die Tötung zahlreicher Geiseln implizit in Kauf genommen hat. BZ unterliegt überdies noch nach der CWK, Annex 2 und Teil VII des Verifikationsanhanges "besonderen Schwellenwerten", was Meldepflicht und Inspektion anbelangt. Andererseits könnten so genannte "calmatives", Beruhigungsstoffe, die gegenwärtig vom Pentagon neu entwickelt werden, zum Einsatz gekommen sein. Als solche gelten etwa gasförmiges Valium und verwandte Substanzen, Fentanyl und neuroleptische Narkosemittel. Aber auch hier ist alles eine Frage der Dosierung. Immerhin grenzt das Pentagon letale von nicht letalen Waffen so ab: Von "nicht letalen Waffen" könne man nur sprechen, wenn die Todesrate unter einem Prozent liege.(DER STANDARD, Printausgabe, 29.10.2002)