Am Sonntag stimmte nichts mehr von dem, womit die Welt am Samstag erwacht war: ein für einige - man sprach von zehn toten Geiseln - tragischer, aber gemessen an der Zahl der Überlebenden glimpflicher Ausgang einer "gelungenen" Operation zur Beendigung des Geiseldramas in Moskaus. Einen Tag später hielten wir bei einer Opferzahl, die über zehnmal so hoch ist. Was die Sache noch schlimmer macht: Man kann davon ausgehen, dass diese Menschen nicht von Terroristen umgebracht wurden, sondern von ihren "Rettern".Ob ihr Tod leichtfertig in Kauf genommen wurde, ob er ein tragischer "Unfall" war, ob er gar wirklich "notwendig" war, um überhaupt jemanden zu retten, werden Untersuchungen zeigen, die selbst in einem Land nicht ausbleiben werden, in dem die Behörden erst einmal nach bewährter Manier mauern und lügen. Und wenn es stimmt, dass die Zusammensetzung des tödlichen Gases den behandelnden Ärzten nicht mitgeteilt wurde, was die Rettung von Menschenleben und Behandlung der Verletzten weiter erschwerte, wird dem Skandal noch eines draufgesetzt. Den Verantwortlichen ist dann eine Horde von Rechtsanwälten vom Schlage eines Ed Fagan zu wünschen, die auch das im Vergleich zu westlichen bestimmt hermetischere russische Rechtssystem zu knacken versuchen werden. Für die Bewertung ist aber vor allem eine Frage zu beantworten: War die hohe Opferzahl in Moskau plus wie sie zustande gekommen ist plus wie die Katastrophe verwaltet wurde "nur" ein allgemeines Versagen der russischen Sicherheitskräfte und Behörden? Oder hat das alles Methode, nämlich die Methode, die auch beim Krieg in Tschetschenien zur Anwendung kommt und die da lautet: Der Staat muss militärischer Sieger bleiben, und auf dem Weg zu diesem Sieg gibt es keine Unverhältnismäßigkeit. Dass dabei auf tschetschenische Zivilisten, die schon durch ihre ethnische Zugehörigkeit gewissermaßen schuldig sind, keine Rücksicht genommen wird, war bekannt - dass diese Rücksichtslosigkeit auch für russische und gar ausländische Zivilisten gilt, ahnen wir spätestens jetzt. Zumindest jeder Triumphalismus wird dieses Mal jedoch in Moskau ausbleiben: Die Erkenntnis, dass die Falle, die man sich im Namen der bedingungslosen Terrorismusbekämpfung nach 9/11 selbst gestellt hat, böse zugeschnappt ist, kann nicht ausbleiben. Bei allen großen Worten eher defensiv wirkte Wladimir Putins TV-Ansprache - er wusste zu diesem Zeitpunkt schon sehr viel mehr als seine Zuseher. Von einer Reflexion über Hintergründe und Ursachen des tschetschenischen Terrorismus und über die Art der Bekämpfung ist das Bedauern über eine aus dem Ruder gelaufene Operation aber weit entfernt. Ebenso in die Falle des 11. September gegangen sind jedoch die tschetschenischen Terroristen von Moskau: Die Hinwendung zum Selbstmordattentat bringt - was bestimmt beabsichtigt war - mehr Öffentlichkeit, gleichzeitig schadet sie der teilweise nachzuvollziehenden Causa enorm. An ihrer Tat und ihren Worten gemessen - eine "Mudjahida" sagte auf einem Video, man wolle möglichst viele "Ungläubige" mit sich nehmen -, hat die russische Propaganda nun plötzlich Recht, wenn sie die tschetschenischen Aktivisten in die Nähe der Qa'ida-Mörder von New York oder Bali stellt. Auch die bis dahin gültige Behauptung, es handle sich um einen Konflikt zwischen Russen und Tschetschenen, stimmt angesichts des Djihad-Geleiers und der ausländischen Toten nicht mehr. Natürlich wissen wir, dass es wiederum nicht zuletzt Putins Politik war, die die tschetschenischen Kämpfer den radikalen Islamisten in die Arme getrieben hat. So wurde aus Terror mit einem Ziel Terror mit einem unerfüllbaren Ziel. Das heißt: Terror ohne Ziel. Die bei der Geiselnahme erhobene Forderung, Russland möge den Tschetschenien-Krieg innerhalb einer Woche beenden, sprach für sich. (DER STANDARD, Printausgabe, 28.9.2002)