Flucht und Politik
Urheber der Bombenserie im Dunkeln
Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges: Spekulationen über Rolle des Geheimdienstes
Moskau/Wien - Zu den Hintergründen gibt es bis heute nur
Spekulationen und Indizien.
Bekannt sind dagegen die Ergebnisse. Vor etwas mehr als
drei Jahren, im August 1999,
eroberten tschetschenische
Rebellen Dörfer im benachbarten Dagestan und kündigten die Ausrufung einer "Islamischen Republik" an.
Im September werden bei
einer Serie von Bombenanschlägen in Moskau und anderen russischen Städten rund
300 Menschen getötet. Die
russische Führung und Medien machen tschetschenische
Terroristen dafür verantwortlich. Der damalige Regierungs- und ehemalige Geheimdienstchef Wladimir Putin leitet daraufhin den zweiten Feldzug gegen Tschetschenien ein.
Der scheinbare Erfolg der
russischen Truppen - Ende
1999 steht die Hälfte Tschetscheniens unter militärischer
Kontrolle Moskaus - macht
Putin populär. Mit 1. Jänner
2000 übernimmt er von Boris
Jelzin interimistisch die Präsidentschaft und wird drei
Monate später mit großer
Mehrheit gewählt.
Die Urheberschaft der Bombenanschläge ist bis heute ungeklärt. Die russischen Behörden nennen einen aus der
Kaukasusrepublik Karatschai-Tscherkessien stammenden
Atschemes Gotschijajew als
Hauptverdächtigen. Ein in
London lebender ehemaliger
russischer Geheimdienstoffizier, Alexander Litwinenko,
behauptete im vergangenen
Juli, der flüchtige Gotschijajew habe ihm eine Erklärung
zugesandt, in der der russische Inlandsgeheimdienst
FSB als treibende Kraft bei der
Suche nach für Anschläge geeignete Wohnhäuser bezeichnet werde.
Nach dem ersten Tschetschenienkrieg (1994-96) hatte
Moskau die Unabhängigkeit
der Kaukasusrepublik vage
anerkannt. Der endgültige Status blieb allerdings offen, was
zusammen mit der unverändert tristen Wirtschaftslage
radikalen Kräften neuen Auftrieb gab.
Dass dieser Prozess auch
von außen, durch islamische
Extremisten, gefördert wurde
und wird, ist unbestritten. Das
liegt aber vor allem daran, dass
der Kreml bisher trotz mehrfacher Ankündigungen offenbar
keine ernsthaften Gespräche
mit dem gemäßigten Lager um
den gewählten tschetschenischen Präsidenten Aslan Maschadow sucht. (Josef Kirchengast/DER STANDARD, Printausgabe, 25./26./27.10.2002)