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Will zwar keinen "plumpen Rigorismus", drängt aber dennoch auf die Einhaltung des Stabilitätspaktes: Luxemburgs Premier Jean-Claude Juncker.

Foto: Reuters/Caratini
Luxemburg - Jean-Claude Juncker, Premier- und Finanzminister Luxemburgs, war an der Ausverhandlung des Eurostabilitätspakts und der entsprechenden Vorschriften im EU-Vertrag beteiligt. Im Gespräch mit dem Standard kommentiert er die aktuelle Debatte. Standard: Wie sehen Sie als einer der Väter des Stabilitätspakts dessen Zukunft? Juncker: Da muss man erst einmal die Vergangenheit sehen. Hätten wir den Stabilitätspakt und das Drei-Prozent- Limit des Maastrichter Vertrags nicht, dann wäre das Auswuchern der Haushaltsdefizite unendlich größer gewesen. Festzustellen bleibt, dass die meisten Euroländer sich doch Mühe geben, den Auflagen gerecht zu werden. Standard: Aber es gibt Kritik. Juncker: Es ist für eine junge Währung, die sich die Stabilität auf die Fahnen geschrieben hat, unabdingbar nötig, dass sie in der Anfangsphase deutlich macht, dass die Grundbedingungen nicht nur Wiegenromantik waren, sondern dass sie auch im wirklichen Leben stattfinden. Bei der Anwendung der Regeln dürfen wir trotzdem nicht in einen plumpen Rigorismus verfallen, der losgelöst wäre vom konjunkturellen Umfeld. Standard: Was bedeutet das? Juncker: Es macht wenig Sinn, nur um eine Art fetischistische Erfüllung des Paktes garantieren zu können, die vier Defizitstaaten (Deutschland, Frankreich, Italien und Portugal; Anm.) zu zwingen, im öffentlichen Investitionsbereich Einsparungen oder Verschiebungen vorzunehmen, die die konjunkturelle Erholung verlangsamen. Zwischen beiden Polen - dem Festhalten am Stabilitätsgedanken und dem konjunkturkonformen Steuern - liegt die Wahrheit. Standard: Wo ist die Grenze? Juncker: Konjunkturpolitisches Steuern ist Defizitländern nur zu erlauben, wenn sie parallel dazu ihr strukturelles Defizit um mindestens 0,5 Prozentpunkte pro Jahr absenken. Dies war auch der Vorschlag der Kommission. Standard: Deutschland verletzt aber eine gar nicht flexible Marke: die drei Prozent Defizit bezogen auf das BIP. Juncker: Man muss sich darauf verständigen, dass das Überschreiten des Drei-Prozent-Limits kein Kavaliersdelikt ist. Wenn diese Überschreitung im nationalen Alleingang passiert und es die nationalstaatliche Bereitschaft nicht gibt, alles zu tun, wieder unter die Marke zu kommen, dann würde dieses Verhalten in der Tat an den Grundfesten rühren. Standard: Warum stellen Sie auf nationale Alleingänge ab? Juncker: Würde dieses Verhalten Teil eines Gesamtverfahrens sein, das sich nicht auf einen einzelnen Eurostaat bezieht, dann wären wir in einer anderen Lage. Man wird sich die Frage stellen müssen, ob es nicht - nach Vereinbarung - einem Land gestattet werden kann, die drei Prozent zu überschreiten. Wenn dies mit Zustimmung aller geschähe, wäre dies für eine sehr kurze Zeit akzeptabel. Jetzt geschieht dies aber ohne Einwilligung der anderen. Im Falle Deutschlands sind wir daher schon nicht mehr in diesem - von mir als denkbar angeregten - Szenario. Daher halte ich es für nötig, dass Berlin im Rahmen des Defizitverfahrens aufgefordert wird, die Situation zu beheben. Standard: EU-Kommissionspräsident Romano Prodi hält den Pakt für "stupide". Juncker: Ich habe ihm entgegnet, nicht der Stabilitätspakt wäre stupide, wenn er adäquat ausgelegt und angewandt wird - stupide wäre eine Politik, die systematisch auf Schulden aufbaut. Standard: Schwächt die Uneinigkeit in der EU-Kommission nicht deren Position? Juncker: Wenn nationale Regierungen zu einem Punkt leicht divergierende Ansichten ausdrücken, wird ja deren Regierungsfähigkeit auch nicht geschwächt. Aber es wäre gut, wenn die Kommission schnellstmöglich klarstellen würde, was ihre Lektüre des Stabilitätspaktes ist. Es wäre gut, wenn sie den Übergang vom Vortragen divergierender Meinungen zur Handlungsunfähigkeit nicht verpasste. (Jörg Wojahn, DER STANDARD, Printausgabe 22.10.2002)