Graz - Innerhalb der kühlen Architektur der Stadthalle verbreitet sich das laue Flair eines Friedensfestivals. Blanke Füße auf orangefarbenen Schaumstoffmatten reihen sich neben Wasserflaschen ein, denn die meisten haben die Schuhe ausgezogen. Am hinteren Ende der Halle, gegenüber der großen Bühne, auf der der Dalai Lama umringt von Mönchen auf einem bunten Thron sitzt, stillen Mütter ihre Babys. Das Licht ist dämmrig, die Luft voll von süßem Rauchduft. Gläubige, erschöpften Groupies gleich, schlafen am Boden.Galt die vergangene Woche des Weltbuddhistentreffens "Kalachakra 2002" in Graz allgemeinen Einführungen in den Buddhismus, findet derzeit der religiöse Höhepunkt statt: die eigentliche "Kalachakra"-Initiation in der neuen Stadthalle, die das tibetische Oberhaupt leitet. Tibetisch-buddhistische Mönche und Nonnen bekommen durch die mehrstündige Initiation die Erlaubnis, mit der Praxis einer speziellen Meditationsübung, dem "Kalachakra-Tantra", zu beginnen. Es beschreibt den Weg zur Erleuchtung. Nichtbuddhisten erhalten dabei eine Segnung durch den Dalai Lama. Laut Veranstalter finden sich täglich bis zu 7000 Menschen aus 70 Nationen zur insgesamt dreitägigen Initiation ein, die heute, Montag, Abend zu Ende geht. Das "Kalachakra" ruft auch viele Kritiker auf den Plan. Vor allem im so genannten Shambhala-Mythos des Textes, in dem der König von Shambhala das Böse in einem endzeitlichen Kampf überwinden soll, werden kriegerische Elemente gesehen. Und sogar eine Kampfansage an den Islam. "Das ist ein indirekter Beitrag zum Kampf der Kulturen", meinte etwa die deutsche Autorin Victoria Trimondi in einem ORF-Interview. In Graz auf derartige Kritik angesprochen, verwies der Dalai Lama auf eventuelle Übersetzungs- und Interpretationsprobleme. Auch Buddhismus-Experten wie Alexander Berzin sprechen dem "Kalachakra" die genuin friedliche Botschaft nicht ab. Er führt eventuelle kriegerische und antiislamische Ansätze auf die Entstehungsgeschichte des Textes zurück, der im Gebiet von Afghanistan und Kaschmir entstanden sei. Doch diese Debatte interessiert nicht alle. Wie etwa der bärtige Einzelkämpfer vor der Stadthalle nur Sorgen hat, dass hier christliche Schäfchen irregeleitet werden könnten. Er sei der "Gegendemonstrant". Die Botschaft auf seinem Plakat lautet: "Jesus Christ, the one and only." (Andrea König/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 21. 10. 2002)