Europa
Gegensätzliche Geschichtsbilder prägen Debatte über Benes-Dekrete
Mehrere Neuerscheinungen beleuchten österreichisch-tschechischen Konflikt
Wien - "Die Benes-Dekrete und die Vertreibung der Deutschen
aus der Tschechoslowakei sind plötzlich in aller Munde, nachdem sie
Jahrzehnte lang kein Thema waren. Ausgerechnet zum Zeitpunkt, zu dem
sich die europäische Einigung im Zeichen eines neuen Europäismus
ihrer Vollendung nähert, erleben wir ein Wiedererwachen alter, längst
überwunden geglaubter Nationalismen und Populismen", schreibt Barbara
Coudenhove-Kalergi in dem von ihr und dem Zeithistoriker Oliver
Rathkolb herausgegebenen Buch "Die Benes-Dekrete" (Czernin-Verlag). Alle zum Teil bösartigen Klischees kämen wieder zu Ehren, alte
Ressentiments eigneten sich vortrefflich als Waffen gegen die
EU-Erweiterung, die bei manchen Teilen der Bevölkerung Ängste und
Bedenken hervorruft. Rechtspopulistische Parteien machten sich diese
Stimmungen zu Nutze. Nach den "quälenden Diskussionen" um Waldheim,
Haider und den FPÖ-Regierungseintritt tue es "vielen Österreichern
gut, einmal nicht in der Rolle des Angeklagten, sondern in der des
Anklägers dazustehen", konstatiert die Autorin, deren eigene Familie
1945 aus Prag vertrieben wurde. In der österreichischen
Öffentlichkeit werde zwar neuerdings sehr viel über die Schrecken der
Vertreibung 1945/46 diskutiert, aber wenig über die Taten der
Nazi-Besatzungsmacht in der Protektoratszeit - während das Münchner
Abkommen 1938 nach den Worten von Vaclav Havel als "historisches
Trauma" das tschechische Denken bis heute beeinflusst.
"Diametral verschiedenes Bild"
Zum Verständnis des österreichisch-tschechischen Konflikts brauche
es mehr als nur die Beschreibung dessen, was 1945-48 und zuvor
1938-45 geschah. "Bis heute haben Österreicher und Tschechen ein
diametral verschiedenes Bild von der so oft beschworenen gemeinsamen
Geschichte, die die beiden Nachbarvölker ebenso zu trennen wie zu
verbinden scheint." Diese unterschiedliche Sicht sei von
"Überheblichkeit" auf der einen und der "Erfahrung des
Von-oben-herab-behandelt-Werdens" auf der anderen Seite gefärbt. "Die
Vertreibung der Deutschen war für diese die ultimative Katastrophe
und das Verbrechen aller Verbrechen, für viele Tschechen - bei aller
Verurteilung von Grausamkeit und Exzessen - letztlich doch eine
notwendige Grundlage für die Stabilität der europäischen
Nachkriegsordnung".
Die langjährige Journalistin und ehemalige ORF-Korrespondentin
Coudenhove-Kalergi präsentiert in dem Band auch von ihr übersetzte
Aufzeichnungen des tschechoslowakischen Staatspräsidenten Edvard
Benes. Daraus geht hervor, dass er schon in der Londoner Exilzeit
sudetendeutschen Sozialdemokraten um Wenzel Jaksch 1942 die
"endgültige Scheidung von den Deutschen" in Aussicht gestellt hat:
"Die Deutschen werden nach diesem großen Krieg als Volk sicher nicht
vernichtet werden. Sie werden weiterleben - etwas, das für uns
Tschechen nach dem Jahr 1938 durchaus nicht sicher war."
"Feindbilder wieder Mode"
"Leider wird die Wiederbelebung alter Feindbilder in der letzten
Zeit in Mitteleuropa zur Mode", heißt es in einem Beitrag von
Präsident Havel. Heutige Politiker, Journalisten und weitere
öffentlich Tätige sollten sich ihrer Verantwortung bewusst sein, wenn
sie "der Versuchung erliegen, die Geister des Nationalismus und alter
historischer Streitigkeiten aus ihren Flaschen zu lassen, oder wenn
sie diesen nicht entschieden Paroli bieten."
Dass die vehemente Forderung nach "Abschaffung" der Benes-Dekrete
einem "rechten und anti-slawischen" politischen Kurs diene, versucht
der Wiener Slawist Beppo Beyerl in "Die Benes-Dekrete. Zwischen
tschechischer Identität und deutscher Begehrlichkeit"
(Promedia-Verlag) nachzuweisen. Der tschechische EU-Beitritt biete
eine ideale Bühne für ein erpresserisches Schauspiel. Den
Sudetendeutschen, die sich insgeheim glücklich schätzen könnten, am
kapitalistischen Wiederaufbau in Deutschland und Österreich
partizipiert zu haben, legt der Autor "etwas Noblesse" nahe: sie
sollten sich mit einem tschechischen Ausdruck des Bedauerns über die
bei der Umsetzung der Dekrete begangenen Untaten begnügen.
Die Vertreibung ist auch Gegenstand einer tschechischen Studie,
die in deutscher Übersetzung vorliegt. "Verfolgung 1945" des
Historikers Tomas Stanek (Böhlau-Verlag) konzentriert sich auf
"wilde" Vertreibungen und Abrechnungen mit der so genannten staatlich
unzuverlässigen Bevölkerung. "Das Rechtsbewusstsein und moralische
Gewissen der tschechischen Gesellschaft war durch München, die
Besatzungszeit und die Ereignisse des Jahres 1945 in vielerlei
Hinsicht gestört und erschüttert worden", stellt der Verfasser fest.
"Der beträchtliche Reichtum, welchen die deutsche Bevölkerung in der
Tschechoslowakei zurückließ, wurde keineswegs effektiv genutzt oder
gar vermehrt - ganz im Gegenteil. Sein wesentlicher Bestandteil wurde
in den folgenden Jahrzehnten der kommunistischen Diktatur im vollen
Wortsinn verwirtschaftet." (APA)