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Ganz oben ist es einsam – so ähnlich geht ein Sprichwort. Da hat ein Bursche seinen 13. Geburtstag, die körperlichen Wirren der Pubertät setzen ihm zu, und die ganze Familie geht ins Freibad. Der Augenblick des Selbstbeweises kommt in Form einer klassischen Mutprobe – er beschließt, dass er den Sprung vom Trampolin riskieren wird. Auf der Leiter wird ihm langsam bange, und oben ist dann überhaupt alles anders. Was vertraut war, ein Bild ergab, löst sich mit einem Mal in seine einzelnen Bestandteile auf. Was bleiben wird, ist ein Fleck am Ende des Trampolins – Hautpartikeln, die beim Absprung von den Füßen abgerieben wurden.

Für immer ganz oben lautet der Titel dieser Story aus David Foster Wallaces Kurze Interviews mit fiesen Männern , mit dem sich der 1962 geborene US-Schriftsteller wohl auch endgültig im deutschsprachigen Raum als eine Ausnahmeerscheinung etablieren wird. Die Geschichte ist zwar eine der "unspektakulärsten" des Bandes, da sie noch einen der intaktesten Helden vorweist; sie verdichtet jedoch eines der Grundthemen in einem Bild des Übertritts: Jemand betritt eine neue – vielseitig deutbare – Szene seines Lebens und ist mit seinem Bewusstsein, der Angst zu versagen (ab sofort und ewig) alleine.

Fast alle anderen Figuren der rund zwei Dutzend Kurzgeschichten stecken schon länger in einem ähnlichen Dilemma fest. Menschen in unterschiedlichem Alter, die entweder sexuell frustriert, depressiv oder extrem selbstbezogen sind; ausgestattet mit den absonderlichen Symptomen einer Gesellschaft, die eigentlich ganz vertraut wirkt. Wenn auch nicht aus der Literatur – der Stoff aus dem Wallace, seinen "stark verkürzten Abriss des postindustriellen Lebensstils" – so der Titel der kürzesten Episode – kondensiert, kommt eher aus den Niederungen von TV- und Radio-Talkformaten.

Der Autor setzt darin rigoros auf eine Aneignung des Sprechens, ein Stilmittel, das er souverän beherrscht (und das in der Übersetzung nichts von seiner Brillanz verliert): Jargons – spezifische rhetorische Ticks, Manöver oder auch Gewohnheiten – werden wiedergegeben, als hätte man sie vom Nebentisch eines Coffee-Shops aus aufgezeichnet. Die in mehrere Teile aufgesplitteten Kurzen Interviews mit fiesen Männern geben sogar die Dialogsituation wieder – signifikanterweise fehlt die Stimme des Gegenübers. Da machen Männer mit Frauen Schluss, obwohl sie sie lieben ("Es liegt natürlich nicht an dir, okay?"), berichten andere von ihren Eroberungsstrategien, oder es fachsimpeln Gender-Studies-Kollegen darüber, was die Frau von heute eigentlich antreibt: "Es ist im Grunde ein Lacan'scher Schrei aus dem kindlichen Unbewussten, hieße das in der Lingo."

Zur Kunst wird die Mimikry dieses Sprechens über Liebe, Sex, Einsamkeit, etc. aber erst durch die ihr innewohnende Differenz zur medialen Wirklichkeit. Das Abgründig-Banale wird einem – durch eine Vielzahl an sprachlichen Brechungen verfremdet – häppchenweise gereicht, wobei sich immer mehr der Eindruck einer Pathologie der Liebe einstellt. Wallaces Erzählungen sind in einem sehr immanenten Sinne moralisch, indem sie immer auch von einer fundamentalen Sehnsucht berichten, über alle gegebenen Barrieren – und das sind nicht zuletzt sprachliche – den anderen zu erreichen.

Am besten demonstriert das Wallace, wenn er vorführt, wie Reden immer schon hilft, Existenzweisen zu legitimieren – wie das Scheitern des Dialogs zur eigentlichen Ursache eines Problems wird. Mehrere Geschichten haben eine Person im Zentrum, welche die längste Zeit über eine andere etwas denkt, was sie ihr gegenüber nie auszusprechen wagen würde. In Adult World wundert sich eine Ehefrau darüber, warum der Penis ihres Mannes so wund aussieht – und glaubt, der Grund dafür sei ihre Unerfahrenheit. Eine Vermutung, die sich bis zur Zwangsvorstellung steigert – immer wieder entwirft Wallace solche fast schon tautologischen Verschlin-gungen, aus denen sich die Figuren nicht mehr befreien können; in denen ein Verdacht oder eine Abneigung nicht artikuliert werden kann und auf die Person zurückfällt, die sie hegt.

Die letzte Pointe, den rettenden Augenblick, beides spart Wallace in den meisten der Stories aus – und das macht sie um so waghalsiger. Er nimmt keinen Standpunkt ein, der sich über seine Figuren erhaben glaubt; genauso wenig übt er explizit Kritik an einer bestimmten Lebensweise. Kurze Interviews mit fiesen Männern verzichtet auf Ironie – die Realität ist schon ironisch genug. Es bietet keine Lösungen an – der Mann, der in einer der vielen Fußnoten Anti-Depressiva ohne Nebenwirkungen erfindet, wird im Gegenzug von den Genesenen belagert, bis er sein Haus nicht mehr verlassen kann.

"Image-Fiction" hat Wallace seine Erzählungen einmal genannt – die Literatur muss sich einer medial gesättigten Wirklichkeit entgegensetzen, sie aber auch ernst nehmen, weil man sich ihr ohnehin nicht entziehen kann. Kurze Interviews mit fiesen Männern löst diese Forderung mit einer neuen Aufrichtigkeit ein, indem es dem Inhalt von Talk-Sendungen etwas von seinem Schrecken (und – nebenbei bemerkt – von seiner Komik) zurückgibt. Ganz oben ist es so einsam wie überall sonst. (Von Dominik Kamalzadeh/DER STANDARD, Printausgabe, 19.10.2002)