Wie und warum die Regierung ohne Not das Handtuch warf
Redaktion
,
Hat sich etwas verändert in
den Niederlanden? Die Zeitungen titeln vom Rücktritt
der Regierung, von Regierungskrise und Neuwahlen,
doch so richtig aufgerüttelt
scheint keiner. Es ist ja nicht
das erste Mal in diesem Jahr.
Im April ist erst die Regierung
von Premier Wim Kok zurückgetreten, bevor sie dann am
15. Mai von den Wählern in
die Wüste geschickt wurde.
Déjà vu? Wirklich nicht.
Kok war alt, müde, hatte die
Kontrolle über einige seiner
Minister verloren und den
richtigen Zeitpunkt zum ehrenvollen Abtritt verpasst. Der
junge, fast bubenhaft wirkende Premierminister Balkenende, der sich zur Königin
aufmacht, den Rücktritt des
Kabinetts bekannt zu geben,
wirkt alles andere als verbraucht, frustriert oder auch
nur enttäuscht. Krisenstimmung? Weit gefehlt.
In dieser Regierung kriselte
es bereits seit ihrer Entstehung, ohne dass das anfänglich jemanden gestört hätte.
Kaum hatte ihn die Königin
mit der Regierungsbildung betraut, äußerte Balkenende
Zweifel, ob die "Liste Pim Fortuyn" (LPF) homogen genug
sei zum Mitregieren. Doch für
die politisch-moralische
Wende, die sie auf ihre Fahnen geschrieben hatten,
brauchten die Christdemokraten die LPF.
Politisch sattelte sie das
Pferd von hinten auf: Erst gewann sie die Wahlen, dann
baute sie ihre Strukturen auf.
Nach dem Mord an Pim Fortuyn hatte erst niemand in der
Partei das Sagen, dann zu viele. Nach endlosen Querelen
einigte sich die Fraktion auf
eine Führung, die so groß war,
dass ihr die Hälfte der Fraktionsmitglieder angehörte. Der
Streit übertrug sich auf die
Regierungsmitglieder, die versuchten, sich gegenseitig aus
dem Amt zu drängen.
Bevor die Parlamentsmehrheit der Regierung gefährdet
worden wäre, entschlossen
sich die LPF-Abgeordneten
unter dem Druck von Rechtsliberalen und Christdemokraten zu einem Kraftakt. Sie
wechselten ihren Fraktionschef aus und wählten den
auch bei den anderen Parteien
angesehenen, erst im Sommer
gestürzten Mat Herben wieder
ins Amt.
Damit schienen die Erwartungen der anderen Koalitionspartner erfüllt: Der Machtkampf war beigelegt, die Parlamentsmehrheit heil geblieben. Doch statt erleichtert aufzuatmen, "zogen die anderen
den Stecker raus", wie ein
LPF-Abgeordneter später enttäuscht sagte. Die Fraktionen
der Christdemokraten und der
Liberalen entzogen der Regierung ihr Vertrauen, und Gerrit
Zalm, Fraktionschef der Liberalen, forderte vorgezogene
Neuwahlen. Die linke Opposition, von Grünen bis zu Sozialdemokraten, war einverstanden.
Nach jüngsten Umfragen
würden Christdemokraten
und Rechtsliberale bei Neuwahlen so viel hinzugewinnen, dass eine Mehrheit ohne
den Unruhestifter LPF in
greifbare Nähe käme. (DER STANDARD, Printausgabe, 18.10.2002)
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