Tiexi qu / Tiexi District
Gezeigt am 23.10. um 12.00 Uhr im Stadtkino im Rahmen der Viennale

Foto: Viennale
Zu einer Zeit, in der international eher "hybride" Formen des Dokumentarfilms en vogue sind, kultiviert man in China ein auf den ersten Blick recht klassisches, dann aber in seinem Sinn für Epik - für das Beobachten von Prozessen -, doch recht eigenes cinéma vérité. Ein Paradebeispiel dafür ist Wang Bings Mammutwerk Tiexi qu / Tiexi District : die Chronik des Zerfalls eines Industriestandortes. Tiexi ist ein Stadtteil von Shengyang, der Hauptstadt der Provinz Liaoning, und der älteste und größte Industriestandort Chinas: Gegründet 1934 zur Zeit der japanischen Okkupation von der Fremdmacht, wurde er in den 50ern, nach der Befreiung des Landes und dank sowjetischer Investitionen, zum Zentrum der Schwerindustrie - und damit zum Symbol eines Traums von China als Weltmacht. Nach dem Zusammenbruch des Haupthandelspartners, der UdSSR, ging es rasch bergab mit der Industrie und damit dem Standort Tiexi: Seit dem Bankrott der Shengyang-Fahrradfabrik, einem der ältesten Betriebe Tiexis, begann eine Fabrik nach der anderen zu schließen - die Massenarbeitslosigkeit entvölkerte schnell ganze Unterstadtteile, groß wie hiesige Kleinstädte; zurück blieben Ruinen einer völlig überalterten Industrie. Als Wang Bing 1999 mit den Dreharbeiten begann, hatte Tiexi schon die härtesten Umstrukturierungen hinter sich: Was Wang filmte - die Kürzestarbeit im Kabelwerk, das Konkursverfahren der Schmelzhütte, die Demontage der Stahlfabrik, die Ruinen der Fahrradfabrik - war die Stasis des Definitiven, wo alles nur noch eine Spur vorheriger Erschütterungen ist. Wirklich auseinanderhalten kann man diese Orte nur mit geübtem Auge: Alles gleicht sich hier, die Stellen, wo noch gearbeitet wird, sind kaum zu unterscheiden von den Ruinen - zu sehen ist überall Zerfall, ganz physisch, verstärkt noch durch die schiere Dauer des Unterfangens (satte 300 Minuten), ein Zusammenbruch jenseits aller ideologischen Implikationen. Wang geht es hier nicht um eine Analyse der Situation, sondern um eine Impression, das Porträt. Was er da in seinen lähmend langen, dann erstarrenden Einstellungen fixiert - jedes Bild genau beobachtend, dabei von teils irritierender Schönheit -, das ist die Ahnung einer Hölle, wo merkwürdig verzerrte Gestalten bei der geringsten Nichtigkeit übereinander herfallen, wo die Logik - des Kapitals, der Produktion, des Fortschritts - zusammenbricht. (DER STANDARD, Printausgabe, 17.10.2002)