Chronik eines Niedergangs: der chinesische Dokumentarfilm "Tiexi qu / Tiexi District" - derzeit auf der Viennale
Redaktion
,
Zu einer Zeit, in der international eher "hybride" Formen
des Dokumentarfilms en
vogue sind, kultiviert man in
China ein auf den ersten Blick
recht klassisches, dann aber in
seinem Sinn für Epik - für das
Beobachten von Prozessen -,
doch recht eigenes cinéma vérité. Ein Paradebeispiel dafür
ist Wang Bings Mammutwerk
Tiexi qu / Tiexi District
: die
Chronik des Zerfalls eines Industriestandortes.
Tiexi ist ein Stadtteil von
Shengyang, der Hauptstadt
der Provinz Liaoning, und der
älteste und größte Industriestandort Chinas: Gegründet
1934 zur Zeit der japanischen
Okkupation von der Fremdmacht, wurde er in den 50ern,
nach der Befreiung des Landes
und dank sowjetischer Investitionen, zum Zentrum der
Schwerindustrie - und damit
zum Symbol eines Traums
von China als Weltmacht.
Nach dem Zusammenbruch
des Haupthandelspartners,
der UdSSR, ging es rasch
bergab mit der Industrie und
damit dem Standort Tiexi: Seit
dem Bankrott der Shengyang-Fahrradfabrik, einem der ältesten Betriebe Tiexis, begann
eine Fabrik nach der anderen
zu schließen - die Massenarbeitslosigkeit entvölkerte
schnell ganze Unterstadtteile,
groß wie hiesige Kleinstädte;
zurück blieben Ruinen einer
völlig überalterten Industrie.
Als Wang Bing 1999 mit den
Dreharbeiten begann, hatte
Tiexi schon die härtesten Umstrukturierungen hinter sich:
Was Wang filmte - die Kürzestarbeit im Kabelwerk, das
Konkursverfahren der
Schmelzhütte, die Demontage
der Stahlfabrik, die Ruinen
der Fahrradfabrik - war die
Stasis des Definitiven, wo alles nur noch eine Spur vorheriger Erschütterungen ist.
Wirklich auseinanderhalten kann man diese Orte nur
mit geübtem Auge: Alles
gleicht sich hier, die Stellen,
wo noch gearbeitet wird, sind
kaum zu unterscheiden von
den Ruinen - zu sehen ist
überall Zerfall, ganz physisch,
verstärkt noch durch die
schiere Dauer des Unterfangens (satte 300 Minuten), ein
Zusammenbruch jenseits aller
ideologischen Implikationen.
Wang geht es hier nicht um
eine Analyse der Situation,
sondern um eine Impression,
das Porträt. Was er da in seinen lähmend langen, dann erstarrenden Einstellungen fixiert - jedes Bild genau beobachtend, dabei von teils irritierender Schönheit -, das ist
die Ahnung einer Hölle, wo
merkwürdig verzerrte Gestalten bei der geringsten Nichtigkeit übereinander herfallen, wo die Logik
- des Kapitals, der Produktion,
des Fortschritts - zusammenbricht. (DER STANDARD, Printausgabe, 17.10.2002)
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