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Estlands Präsident Lennart Meri

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Nach der Rückeroberung Estlands lief die neue Sowjetisierung an. Erneut erfolgten Massendeportationen, insbesondere die von 40.000 Bauern mit dem Ziel der raschen Durchsetzung der Kollektivierung der Landwirtschaft. Zugleich wurde die demographische Struktur des Landes durch russische Einwanderung - im Lauf der Jahre insgesamt etwa 300.000 Personen - verändert. Sie wurden in der Verwaltung und vor allem in der aus dem Boden gestampften Schwerindustrie eingesetzt. Petschora und das Trans-Narva-Gebiet wurden von der Sowjetrepublik Estland abgetrennt und wieder der RSFSR einverleibt. Die alte Kreis- und Gemeindeeinteilung wurde abgeschafft. Der vor allem im Kulturleben spürbaren Liberalisierung in der "Tauwetter"-Periode folgte in der Zeit der "Stagnation" unter Breschnjew eine neue Russifizierungswelle. Estnische Dissidenten richteten 1972 ein Memorandum an die UNO, in dem die Wiederherstellung der Selbstständigkeit gefordert wurde. Ein ebensolcher Aufruf seitens estnischer und lettischer Oppositioneller erging an die in Helsinki tagende KSZE. Die Sowjetregierung antwortete mit Prozessen und langjährigen Haftstrafen für Dissidenten. Die Aufforderung zur Veröffentlichung der geheimen Zusatzprotokolle des Hitler-Stalin-Paktes wurde ignoriert. Die Reformankündigungen Michail Gorbatschow am Ende der achtziger Jahre wurden im Baltikum mit besonderer Aufmerksamkeit aufgenommen. Den Probelauf in die neue Freiheit machten die Esten im Sommer 1988 mit politisch-musikalischen Demonstrationen. Am Jahrestag des sowjetischen Einmarsches, am 17. Juni 1988, kamen 170.000 Esten in Tallin zu einem Sängerfest zusammen, bei dem verbotene patriotische Lieder erklangen. Die "Singende Revolution", geboren aus der seit 1869 üblichen Tradition der Sängerfeste, hatte begonnen und ergriff auch die anderen baltischen Länder. Erneut wurde nun die Forderung nach Veröffentlichung der Geheimprotokolle von 1939 verlangt. Angesichts der von Gorbatschow verkündeten "Glasnost" konnten die historischen Tatsachen nicht länger geleugnet werden. Eine Kommission wurde eingesetzt, sie erklärte die Abmachungen rechtlich für nichtig. Das bedeutete, dass deren Völkerrechtswidrigkeit zugegeben wurde. Doch Konsequenzen daraus zu ziehen war auch Gorbatschow nicht bereit. Obwohl die sowjetische Verfassung ja selbst unter Stalin theoretisch den Austritt einer Sowjetrepublik aus der Union für zulässig erklärt hatte. Estland wurde mit dem Versuch, die sowjetische Verfassung beim Wort zu nehmen, zum Schrittmacher. Am 16. November 1988 erklärte der Oberste Sowjet der Estnischen SSR die Oberhoheit über deren Gesetzgebung; in einer Verfassungsänderung wurden Menschenrechte und Privateigentum garantiert. In Estland bildete sich unter dem Vorsitz des Reformkommunisten Arnold Rüütel eine "Volksfront", "Eestimaa Rahvarinne". Bei den Wahlen in den Unionssowjet im März 1989 erzielten die "Volksfronten" der drei baltischen Länder Mehrheiten. Versuche des Kremls, durch Ungültigkeitserklärung der Verfassungsänderung und durch Organisation von Gegnern den Freiheitswillen zu bremsen, blieben vergeblich. Der russische Präsident Boris Jelzin war gerade in Tallin anwesend, als in Vilnius und Riga gewaltsame Umsturzversuche unternommen wurden, und er wandte sich entschieden dagegen. Nach der Niederschlagung des Moskauer Putsches im August 1991 erkannte die Sowjetunion am 6. September die Unabhängigkeit der drei baltischen Republiken an. Wegen Kritik an seiner Wirtschaftspolitik trat Volksfront-Chef Edgar Savisaar 1992 zurück; auf Initiative seines nur wenige Monate regierender Nachfolger Tiit Vähi führte Estland als erste der ehemaligen Sowjetrepubliken eine eigene Währung, Kroon, ein. Bei den ersten freien Wahlen seit 1934 errang der konservative Wahlverband Isamaa (Vaterland) die relative Mehrheit (1992). Dessen Vorsitzender Mart Laar löste die "Volksfront"-Regierung mit einer konservativen Koalition ab. Die Regierung Laar verordnete der Bevölkerung eine Schocktherapie der Umstellung zu marktwirtschaftlichen Verhältnissen. Die Unzufriedenheit der benachteiligten Schichten hatte bei den Wahlen 1995 eine schwere Niederlage der konservativen Koalition zur Folge. Sie wurde von der Sammlungspartei (KMÜ) und der von Savisaar geführten Zentrumspartei abgelöst. Die neue Regierung von Tiit Vähi konnte die allmählich eintretenden Früchte der vorherigen Politik in Form eines zaghaften Wirtschaftsaufschwungs ernten und versuchte zugleich, die Opfer, die die Reformmaßnahmen der Bevölkerung abverlangten, sozial abzufedern. Im Juli 1997 wurde Estland von der EU-Kommission als einzige der baltischen Republiken unter den sechs neuen Kandidaten für die EU-Erweiterung ausgewählt (1998 begannen die Beitrittsverhandlungen). Neben den wirtschaftlichen Problemen, die mehrmals zu Regierungsumbildungen führten, bildet die große russische Minderheit (rund 300.000 der 1,5 Millionen Einwohner) die schwierigste Hinterlassenschaft der Sowjetzeit. Zunächst bestimmte das Staatsbürgerschaftsgesetz von 1991, dass die estnische Staatsbürgerschaft nur allen Einwohner, die bereits 1940 Bürger der Republik Estland waren, samt deren Nachkommen automatisch zukomme. Russen und Angehörige anderer Nationalitäten konnten die Staatsbürgerschaft beantragen, wenn sie die estnische Sprache beherrschten und nicht der sowjetischen Armee oder Polizei angehört hatten. Da es nur sehr wenige Russen gab, die es für notwendig befunden hatten, Estnisch zu lernen, konnten nur wenige diese Bedingungen erfüllen. Dies belastete von Anfang an die Beziehungen Estlands zur Russländischen Föderation. Trotz Milderungen im Staatsbürgerschaftsgesetz waren im Jahr 2000 noch immer rund 150.000 Bewohner Estlands, vor allem Russen, offiziell staatenlos. Sie sind nicht zu den Parlamentswahlen zugelassen, dürfen hingegen an Kommunalwahlen teilnehmen; das hat zur Folge, dass in den Stadtvertretungen die Mehrheitsverhältnisse eher zur linken Seite neigen. Die Präsidenten Estlands, Lettlands und Litauens - Meri, Ulmanis und Brazauskas - bekräftigen 1995 in nicht nur die trilaterale Zusammenarbeit im militärischen Bereich, sondern auch den Wunsch nach Aufnahme der drei Staaten in die NATO. Das ist aufgrund der historischen Erfahrungen der Völker des Baltikums allzu verständlich. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 12./13. 10. 2002)