2002 ist kein gutes Jahr für den Verfassungsgerichtshof. Am Beginn des Jahres gab es wochenlange persönliche Angriffe gegen dessen Präsidenten; derzeit sorgen Nachbesetzungen frei werdender Richterposten für Aufmerksamkeit. In der Presse vom 10. Oktober wird sogar ein "wirklicher Skandal", allerdings in der Hofburg, konstatiert. Ein "a.u." bedient sich klarer Worte, um dem ORF und dem Bundespräsidenten den rechten Weg zu weisen.**) Die Ausschreibung des Posten des Vizepräsidenten sei "rechtlich legitim . . . selbst wenn Bundespräsident und ein oppositionsnaher Jurist dies anders sehen". Wer die ZiB 2 am 8. Oktober gesehen hat, weiß, wer gemeint ist, nämlich ich. Die Qualifikation meiner Person lasse ich unkommentiert. Offenbar gibt es ein Bedürfnis jeden politisch irgendwo einzuordnen; recht so, jeder ist selber schuld, wenn er sich nicht selbst eindeutig deklariert und sich dadurch verdächtig macht! Worum geht es? Die Bundesregierung hat dem Bundespräsidenten vorgeschlagen, den derzeitigen Vizepräsidenten des VfGH mit Wirkung vom 1. Jänner 2003 zum Präsidenten zu bestellen. Folgt der Präsident diesem Vorschlag, dann ist der Posten des Vizepräsidenten ab 1. Jänner 2003 offen. Die Regierung ist offenbar der Auffassung, dass nun sofort auch der Posten des Vizepräsidenten auszuschreiben ist. Grund für die Eile Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass diese Eile auch darin begründet ist, dass bekanntlich Neuwahlen angesetzt sind und es in deren Folge möglicherweise zu einem Regierungswechsel kommt. Wird also der Posten des Vizepräsidenten nicht rasch ausgeschrieben, könnte es sein, dass die Erstattung des Besetzungsvorschlages einer anders zusammengesetzten Bundesregierung obliegt. Die Frage, um die es nun geht, ist, ob die Ausschreibung des Postens des Vizepräsidenten zum jetzigen Zeitpunkt zulässig ist. Wer das Gesetz liest, findet eine klare Antwort: Nach § 1 Abs. 2 des Verfassungsgerichtshofgesetzes sind die "offenen Stellen" der Verfassungsrichter auszuschreiben. "Offen" ist das Gegenteil von "besetzt"; solange ein Richter die Stelle besetzt, ist sie also nicht "offen". Unzweifelhaft hält der amtierende Vizepräsident seine Stelle derzeit und jedenfalls weiters bis zum Ablauf des 31. Dezember besetzt. Dies natürlich auch dann, wenn er zwischenzeitig - mit Wirkung vom 1. Jänner 2003 - zum Präsidenten bestellt wird. Man sollte meinen, dass die Regelung klar ist: Da angeordnet ist, dass "offene Stellen" auszuschreiben sind, heißt das, dass besetzte Stellen eben nicht auszuschreiben sind. Nicht alle wollen das so sehen: Es sei ja "absehbar", dass die Stelle ab 1. Jänner 2003 offen sein wird; daher sei die Ausschreibung schon jetzt zulässig, wird argumentiert. Aus der Sicht der Regierung gewiss eine gefällige Theorie, die freilich nicht mehr auf Auslegung des geltenden Rechts beruht, sondern dieses ohne Notwendigkeit "ergänzt". Wer so argumentiert, maßt sich an, was allein dem Gesetzgeber zusteht, und begibt sich auf einen bedenklichen Weg. Da nämlich die Mitglieder des VfGH mit Ablauf des Jahres, in dem sie das 70. Lebensjahr vollenden, in den Ruhestand treten, ist heute bereits absehbar, wann jeder der 14 Posten "offen" ist. Der Zeitpunkt steht also fest. Kann also die amtierende Regierung schnell noch ein paar Posten ausschreiben? Wer das vermeiden will, muss das Gesetz noch weiter "ergänzen" und es so lesen, dass "offene, und in absehbarer Zeit offen werdende Stellen" auszuschreiben sind. Ein derartiger Umgang mit dem Recht ist freilich nicht mehr Rechtserkenntnis, sondern eine klare Umdeutung des Gesetzes. Wer sich dazu nicht hergibt, kann nicht umhin, die vor wenigen Tagen erfolgte Ausschreibung der Stelle des Vizepräsidenten des VfGH durch die Regierung als rechtswidrig zu qualifizieren. Wenn "a.u." in der Presse meint, das Gegenteil damit beweisen zu können, dass "Botschafterposten . . . immer ausgeschrieben werden, wenn der Amtsinhaber noch auf seinem Stuhl sitzt", dann tritt er mit festem Schritt in den Fettnapf. Die Ausschreibung dieser Posten erfolgt nämlich nach dem Ausschreibungsgesetz, das eine derartige Vorgangsweise - anders als das hier anzuwendende Verfassungsgerichtshofgesetz - ausdrücklich anordnet. Auch ein "Skandal" in der Hofburg existiert nicht; dies aus zwei Gründen: Einmal ist der Bundespräsident nicht verpflichtet, einem Vorschlag der Regierung zu folgen und eine Ernennung vorzunehmen; schon gar nicht ist er verpflichtet, dies sofort zu tun. Selbst wenn er aber den derzeitigen Vizepräsidenten in den nächsten Tagen zum Präsidenten ernennen sollte, wird dadurch allein die Stelle des Vizepräsidenten noch nicht "offen". Das wird sie erst am 1. Jänner 2003, wenn der derzeitige Vizepräsident das Amt des Präsidenten antritt. Durch offene Stellen wird die Funktionsfähigkeit des VfGH in keiner Weise beeinträchtigt; das Verfassungsgerichtshofgesetz sieht ausreichend genaue Vertretungsregelungen vor. Der aktuelle juristische Streitfall zeigt sehr schön, wie man mit kleinen juristischen Tricks - "ein bisschen etwas in das Gesetz hineininterpretieren" - politische Machtfragen beeinflussen kann. Vor einem solchen Umgang mit dem Gesetz kann man nur nachdrücklich warnen. Besonders übel ist es aber, wenn solche Methoden dort angewendet werden, wo es um einen derart sensiblen Bereich wie die Verfassungsgerichtsbarkeit geht.(DER STANDARD, Printausgabe, 12./13.10.2002)