Nach einer beachtenswerten "Frühform" scheinen die Grünen in den vergangenen Wochen in ein veritables Formtief geschlittert zu sein. Dabei macht ihnen, wie so oft in den letzten Jahren vor einer wichtigen Wahl, der politische Gegner weniger zu schaffen als die eigene Mannschaft.Offensichtlich fällt es den Grünen schwer, ihre Signale an enttäuschte Wähler aus dem Umfeld von ÖVP und FPÖ mit jenen zu koordinieren, die ihr Stammpublikum gewöhnt ist. Regierungsfähigkeit bedeutet nicht nur, sich strukturell fit zu machen, sie schließt auch einen Tribut an den diskursiven Mainstream ein: Dazu gehört auch, Veranstaltungen zu sensiblen Themen wie eine Diskussion über das Verhältnis zwischen Israel und den Palästinensern so zu besetzen, dass einem eben nicht der Vorwurf der Einseitigkeit gemacht werden kann. Wie unbarmherzig - auch mit Verzögerung - die Antisemitismus-Keule zuschlägt, merken die Grünen ja jetzt selber; und keiner sage, dass gerade sie es nicht hätten besser wissen müssen. Dass eine potenzielle Regierungspartei mit anderem, oft gröberem Maß gemessen wird als eine Oppositionspartei, ist aber nicht das einzige aktuelle Problem der Grünen. Ihr größeres dürfte sein, dass sie einen heikleren Balanceakt zwischen dem Werben um neue Wähler und der Verärgerung alter versuchen müssen als andere Parteien - eben weil ihre Positionen prononcierter sind als die ihrer Mitbewerber. Einem grünen Fundi klar zu machen, dass Regieren die Maximalnutzung der Möglichkeitsform durch den Kompromiss bedeutet, ist ein hartes Brot, an dem auch Kaliber wie Joschka Fischer gehörig zu kauen haben. Ob die dem gelernten Österreicher von Natur aus imponierende professorale Verbindlichkeit Alexander Van der Bellens dazu ausreicht, werden die Grünen am Wahltag wissen. (DER STANDARD, Printausgabe, 10.10.2002)