Einem französischen Großmeister des Kinos ist die diesjährige große Retrospektive von Viennale und Filmmuseum gewidmet. Bis Monatsende ist das "Kino des Jacques Rivette" im Votiv-Kino zu erforschen und zu genießen: eine herrliche, einzigartige Herausforderung.

Von Claus Philipp


Rivette am Set von L'amour par terre
(16.10., 18.00; 25.10., 20.30)

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Wien - "Die einzig wahre Kritik eines Films kann nur ein anderer Film sein." Schon aus diesem Satz des Apothekersohns, der aus Rouen nach Paris gekommen war, um binnen Tagen eines der beredtesten Mitglieder der dort erblühenden Cineasten- und Filmkritiker-Szene zu sein - schon aus dieser Haltung war klar:

Jacques Rivette musste (wie seine Freunde Eric Rohmer, Jean-Luc Godard und François Truffaut) Filme machen.

Gion Bayashi (Kenji Mizoguchi, Japan 53; von Rivette im Rahmen der 'Carte Blanche' ausgewählt; 28.10., 18.00)

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Im Umfeld des Ciné-Club du Quartier Latin, der Gazette du Cinéma und schließlich der Cahiers du Cinéma hatte der 1928 Geborene seit Beginn der 50er-Jahre schnell einen ganz eigentümlichen, oft an literarische Traditionen wie den Briefroman anknüpfenden Stil der Filmanalyse entwickelt.

Er hatte sich das Kino der "Pioniere" (wie Griffith oder Murnau oder Dreyer) ebenso angeeignet wie er neue Großtaten etwa Roberto Rossellinis oder Robert Bressons emphatisch begrüßte.

Stromboli (Rossellini, Italien 1949;
18.10., 18.00; 22.10., 16.00)

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Und obwohl so viel filmisches Wissen und so viel Passion nicht unbedingt auch zu filmischer Begabung führen müssen, geschah es wie unvermeidlich:

Nach Regieassistenzen bei Jean Renoir und Jacques Becker finanzierte und drehte Rivette mithilfe seiner Freunde erste Kurzfilme. Sein erster Langfilm Paris nous appartient etablierte - etwa neben Godards A bout de souffle - die Nouvelle Vague.

Paris nous appartient
(10.10., 18.00; 19.10., 20.30)

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1966 schließlich wurde Rivette endgültig "berühmt": Durch das Verbot seiner Diderot-Adaption La religieuse.

Das Werk, das er seither gedreht und geschrieben hat, darf man getrost als "Kontinent" bezeichnen, den man immer wieder mit Gewinn durchwandern kann.

La religieuse
(10.10., 20.30; 19.10., 18.00)

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Lesend ins Kino

Wer den leidenschaftlichen Cineasten Rivette würdigen will, kommt um den ebenso passionierten Leser nicht herum, der sich gewissermaßen auch in seiner Liebe zur Literatur des 19. Jahrhunderts vom Kino "verstanden" fühlt: Schon in seinen frühen Texten entfaltet Rivette diesbezüglich ein stupendes Wissen, etwa wenn er in einem Text über Alexandre Astruc darlegt, dass de facto das Kino die Funktion des Bildungsromans übernommen habe:

Hurlevent
(17.10., 18.00; 29.10., 18.00)

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"Wie Hitchcock den englischen Roman weiterführt, oder Howard Hawks Robert Louis Stevenson, so gelingt Astruc eine moderne Education sentimentale, die die meisten modernen Romanciers versäumt haben zu schreiben."

Es gehört wiederum zu den bekannteren Konstanten im Werk des Filmemachers Rivette, dass er immer wieder auf Stoffe der Literatur-, Theater-und Kunstgeschichte zurückgreift, um dann - gleichsam von einer soliden Basis aus, besondere Freiheit zu entwickeln.

Merry-Go-Round
(14.10., 20.30; 24.10., 18.00)

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Und (was die meisten Literaturverfilmungen nicht zustande bringen) gerade aus engen Korsetten heraus Wert zu legen auf einen wahrhaftigen Ton, absolute Präsenz.

Balzacs Geschichte der Dreizehn stand Pate für den 13-stündigen Film Out 1 - Noli me Tangere. Ebenfalls von Balzac stammt die Vorlage zu La belle noiseuse - Rivette inspirierte zu diesem Tanz der Zeichen rund um einen Maler und sein Modell die Kurzgeschichte Das ungekannte Meisterwerk.

Out 1 - Noli me Tangere
(26.+27. 10.; 12.30)

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Immer bleibt er diesen originären Werken bis zur Nicht-wieder-Erkennbarkeit treu: Andererseits gehört es zu den paradoxen Nachwirkungen seiner Filme, dass man unbedingt lesen möchte, was ihn inspirierte - Emily Bronte etwa bei Hurlevent (1984), die Orestie zu Secret défense (1998) oder Pirandello zu Va savoir (2001):

Va savoir
(9.10., 20.30; 21.10., 20.00 [Langfassung]; 28.10., 20.30)

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Aber Rivettes Filme ertränken ihre Vorlagen nicht im sicheren Spiel mit Identifikationsmöglichkeiten, sondern sie bewahren ihnen (und sich selbst) die Unverwechselbarkeit. Einem richtigen Satz steht eine richtige Einstellung (filmisch und erzählerisch) gegenüber, beide fallen nicht unbedingt in eins.

Es ist denn auch kein Wunder, dass Rivette - durchaus im Einklang mit Haltungen des Theaters und der Politik im Paris der 60er- und 70er-Jahre - mit Spielformen der Improvisation experimentierte:

L'amour fou
(11.10., 20.00; 20.10., 20.00)

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Es gibt kaum einen Regisseur, der seine Schauspieler zu so viel Eigenverantwortlichkeit erzieht wie Rivette.

Glück für Darsteller

Sandrine Bonnaire etwa ermutigte er beim Dreh zu Jeanne la pucelle (1992-1994) zu einem auch literarisch interessanten Tagebuch.

Jeanne la pucelle
(15.+16.10., 20.30; 31.10., 17.30+20.30)

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Und Emmanuelle Béart erzählt über die Arbeit zu La belle noiseuse in einem Interview im wunderbaren Katalog zur Viennale-Retrospektive:

"Gewöhnlich schreibt das Drehbuch die Rolle vor. Hier hingegen hatte ich das Gefühl, wirklich in den Film integriert zu sein, wie ein Autor oder ein Regisseur, etwas ändern, beschleunigen oder verlangsamen zu können."

La belle noiseuse
(18.10., 20.00; 27.10.; 20.00)

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Rivettes Filme entwickeln nicht nur aus dieser Haltung, die den Spielraum anderer akzeptiert, sehr eigenwillige, gegen die Konventionen der Spielfilmlängen gerichtete Zeitmaße.

In einem Gespräch mit dem Publizisten Serge Daney, das die Filmemacherin Claire Denis für die Reihe Cinéastes de notre temps dokumentierte, kommt Rivette aus diesen "Längen" heraus auf geradezu physische Notwendigkeiten zu sprechen:

Jacques Rivette, le veilleur
(Claire Denis, 1990;
9.10., 18.00; 21.10., 15.30)

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"Ich habe immer Lust, den Körper in seiner Gesamtheit zu sehen, und eigentlich auch den Menschen im Verhältnis zum Raum oder zu den Personen, in deren Gegenwart dieser Körper agiert, reagiert, sich bewegt, Dinge durchmacht." Er, Rivette, mache "ein Kino, das die Kontinuität der Ereignisse mehr oder weniger in den Vordergrund stellt".

Diese Kontinuität kompositorisch durchzugestalten, erfordert dann wiederum filmisch besondere Sorgfalt.

Céline et Julie vont en bateau
(13.10., 20.00; 22.10., 20.30)

Foto: Filmmuseum

Viennale-Direktor Hans Hurch schrieb einst als Filmkritiker über Rivettes Viererbande (1988) zu Recht: "Es sind gerade die musikalische Exaktheit der Montage, die weitgehende Verwendung des Originaltons, die Auswahl der Orte und Dekors und das freie und erfinderische Spiel der Mädchen, die Rivettes Inszenierung ihren Reichtum verleihen. Sie sind der Rahmen, in dem der Zufall und das Schicksal spielen, die kleine Bewegung und das aufbrausende Wort, der Lärm der Straße und das Licht des Nachmittags, der geraubte Kuss, der tödliche Schlag."

La bande des quatre
(17.10., 20.30; 26.10., 20.30)

Foto: Filmmuseum

Es ist eine schöne Kontinuität in der jüngeren Geschichte der Viennale, dass solche Befunde von Cineasten wortwörtlich Programm werden können:

Gut einen Monat lang kann man nun im Votiv-Kino (der gegenwärtigen Dependance des Österreichischen Filmmuseums) in Verschwörungen eintauchen, wie sie nur Rivette andeuten kann.

Le pont du nord
(15.10., 18.00; 24.10., 20.30)

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Und auf die Wiener Retrospektiven für Jean-Luc Godard und Rivette wird in den nächsten Jahren wohl ganz unbedingt noch eine für Eric Rohmer, den dritten großen Radikalen der Nouvelle Vague folgen müssen. Auch bei ihm wäre zu sehen: Die "neue Welle" wirkt heute immer noch mit ungebrochen vitaler Kraft.
(DER STANDARD, 9. 10. 2002)

Haut bas fragile
(12.10., 17.00; 29.10., 20.30)

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