Gut wienerisch ausgedrückt, ist es ka Oad ned , also unhöflich, eine wildfremde Frau in einem öffentlichen Verkehrsmittel als "Hexe" zu beschimpfen. Politisch korrekt ist es sowieso nicht. Im Roman der litauischen Autorin Jurga Ivanauskaite (Jahrgang 1961) passiert es trotzdem gleich mehrmals. In einer erzählerischen Parallelaktion werden daraufhin drei "Frauenschicksale" erzählt - wie es im Klappentextdeutsch so schön heißt -, drei Viten und Identitäten also, die eigentlich eine sein könnten: Da ist die im Bus insultierte Viktorija, genannt Vika, die wegen ihrer unglücklichen Liebe zum Priester Paulius in die Psychotherapie flüchtet (und er ins Kloster). Zweitens: Marija Viktorija, die es noch schlechter getroffen hat, denn sie liegt im Kerker der Inquisition wegen ihrer Liebe zu einem veritablen Eremiten. Außerdem kennt sie das Tagebuch (bzw. Evangelium) der dritten Frau, die Maria Magdalena heißt und in einen ganz unmöglichen Mann verliebt ist, der leider ganz simpel Jesus heißt.Laut Eigenaussage wollte die Autorin eigentlich ein Buch "über den Glauben und die Liebe" schreiben. Für die amtliche Sittenkommission der litauischen Hauptstadt Wilna (Vilnius), die den Verkauf der Erstauflage 1993 im Buchhandel verbot, war es schlichtweg "Pornografie". Auf diese Weise wurde denn auch der Roman gleich 20 000 Mal vertrieben, und zwar in den Sexshops des Landes: Güte- oder bloß Blausiegel? Mehr störend denn verstörend wirkt Die Regenhexe vor allem ästhetisch: Nicht nur der öko-feministische Diskurs, den der Text vordergründig beginnt, ist seit Christa Wolf etwas abgetragen. Man könnte sich hier freilich mit einem gewissen Nachholbedarf in postsowjetischen Wendezeiten trösten, der auch durchaus etwas charmant (N)Ostalgisches hat, so wie Rotkäppchen-Sekt aus der DDR. Ähnliches gilt für den katholischen Wahn des Textes, der einem als Regionalkolorit entgegenschlägt. Immerhin ist die Autorin durch mehrere Tibet- und Indienbesuche, die ihr herzlich vergönnt seien, auch esoterikgestählt zurückgekommen: also quasi Generalabsolution. Das wahre Problem indes besteht in der offenkundigen Nichtübertragbarkeit kultureller Konventionen. So wird die Ornamentik der litauischen Sprachkultur in der deutschen Übersetzung nolens volens mit der Getragenheit von Kolportage angereichert: "Erst bei genauerem Hinsehen geriet man über die musikalische Schönheit ihres Gesichts ins Staunen, die jetzt von einem dichten Schleier aus grauer Verzweiflung und gelber Traurigkeit verhüllt war." Und später heißt es gar: "Der Schüttelfrost der Erinnerungen ließ mich nicht mehr zittern." Was hier wächst und zittert, ist zweierlei: die bunte Stilblüte und der Unmut ästhetisch farbloser denkender Leser/innen. Dies wird aber wohl dem Erfolg des Romans vor seiner potenziellen Fangemeinde keinen Abbruch tun - ohne dass es dazu der hiesigen Sexshops bedürfte. Die litauische Gegenwartsliteratur von Wert allerdings, so scheint es, haben andere geschrieben. (Clemens Ruthner/DER STANDARD; Printausgabe, 05.10.2002)