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Das Parlament in Vilnius umgeben von einer Betonmauer die 1991 zum Schutz gegen die Stürmung durch Sowjet-Truppen errichtet wurde.

APA/Hermine Schreiberhuber

Die litauische Kunstszene hat in den letzten zehn Jahren einen grundlegenden Wandel durchlebt. War sie in den Achtzigerjahren noch streng zentralisiert und von traditionellen und ideologischen Normen eingeengt, so reagierte die Szene rasch auf die Möglichkeiten, die sich durch den politischen Wandel auftaten.

Die staatlichen Theater, Museen, Konzert-und Ausstellungssäle, die das Kulturleben in den Achtzigerjahren bestimmt hatten, verloren ebenso schnell ihre dominierende Rolle wie die offiziellen Künstlerverbände. Künstler aller Richtungen schlossen sich zu unabhängigen Verbänden zusammen und machten sich auf die Suche nach alternativen Foren für ihre Werke. Zu Beginn der Neunzigerjahre schossen Künstlergruppen wie Pilze aus dem Boden, so etwa "24", "1", "Angis" und "Post Ars". Private Galerien wie "Vartai", "Langas" und "Lietuvos Aidas" boten neue Möglichkeiten zur Ausstellung von Kunst. Unabhängige Theater und Festivalagenturen wurden gegründet und organisierten u. a. das Theaterfestival LIFE, das von 1991 bis 1999 wichtige Impulse für die Entwicklung des litauischen Theaters gab (auch wenn die Hoffnungen dieser sich schnell entwickelnden neuen Initiativen sich nicht immer erfüllten). Der Enthusiasmus hielt nicht lange vor, die Entwicklung litt unter der fehlenden Finanzierung und dem veränderten kulturellen Wertesystem.

Die heutzutage in Litauen am meisten verbreitete Kunstsparte ist die bildende Kunst. Sie ist am vielfältigsten im Bezug auf ihre verschiedenen Zweige, Techniken, Mittel und Ambitionen und gleichzeitig auch qualitativ am heterogensten.

Zwei Faktoren waren für die Herausbildung eines zeitgenössischen Kunstlebens von großer Bedeutung. Zum einen handelt es sich um die Umstrukturierung der konservativen Direktion für Kunstausstellungen, die einer traditionellen Ausstellungspolitik verschrieben war, anlässlich der Gründung des Vilniusser Zentrums für zeitgenössische Kunst 1992. Ein zweiter Faktor war 1993 die Gründung des Soros-Zentrums für zeitgenössische Kunst (SZZK), finanziert durch den bekannten Mäzen Georges Soros, der auch das Open Society Institute ins Leben gerufen hat. Das SZZK erhielt eine Zeit lang großzügige finanzielle Zuwendungen. Beide Organisationen trugen nicht nur ähnliche Namen, sondern glichen sich auch in ihren Zielen. Man wollte die litauische bildende Kunst von Grund auf modernisieren, dem Ausland zugänglich machen und gleichzeitig die Öffnung Litauens für internationale künstlerische Einflüsse erreichen.

Das SZZK existiert heute nicht mehr. Bei der Umstrukturierung des Open Society Institutes wurde es an das Kunstmuseum Vilnius angegliedert, in der Hoffnung, dass daraus einmal ein Museum für moderne Kunst entstünde. In den sechs Jahren, in denen das SZZK künstlerische Projekte und Ausstellungen in Litauen und im Ausland unterstützte, gab es den litauischen Künstlern wesentliche Impulse zur künstlerischen Weiterentwicklung und förderte künstlerische Ausdrucksformen, die bislang nicht systematisch genutzt wurden; neue Begriffe wie Performance, Objekte, Installationen und Videoinstallationen wurden damals im Vokabular der litauischen Kunst etabliert. Dank der finanziellen und organisatorischen Unterstützung des SZZK konnte Litauen ab 1994 zunehmend aktiv am internationalen Kulturleben teilnehmen: Litauische Künstler waren auf den Biennalen in Sao Paulo und Istanbul, der Manifesta und an der Internationalen Quadriennale für Bühnenbild in Prag vertreten. Eine der größten Errungenschaften des SZZK war die erste Präsentation Litauens auf der Biennale in Venedig 1999.

Das SZZK initiierte nicht nur mehrere Ausstellungen klar konzeptualisierter Kunst in Galerien und anderen Ausstellungsräumen, sondern förderte auch die Suche nach neuen Räumen unter freiem Himmel. Wichtiges Ereignis wurde die 1995 vom SZZK organisierte Ausstellung "Sprache des Alltags", die an verschiedenen Plätzen in Vilnius stattfand und an der viele heute international anerkannte litauische Künstler teilnahmen.

Nun zum anderen Zentrum, dem Zentrum für zeitgenössische Kunst (ZZK), Vilnius: Es verfügt über die größte Ausstellungsfläche im Baltikum (über 2000 m²); sein Schwerpunkt ist die Vorstellung intellektuell-elitärer zeitgenössischer Kunst. Joao Penalva, Max Ernst, Andy Warhol, Ulrich Rückriem, A. R. Penck, Sigmar Polke, Marcus Lüperz, Antony Gormley, Nam June Paik, Elke Krystufek und Katarzyna Kozyra sind nur einige der Künstler von Weltrang, die dem litauischen Publikum dank dem Engagement des ZZK-Direktors K¸estutis Kuizinas zugänglich gemacht wurden.

Das ZZK Vilnius hat viel dafür getan, sein Publikum zu "verjüngen" und das Interesse für mithilfe neuer Technologien entstandene Kunstwerke sowie für die modifizierten Triennalen der baltischen Kunst zu wecken. In den Räumen des ZZK reiften die Ideen vieler herausragender litauischer Künstler heran, so etwa Mindaugas Navakas, Deimantas Narkevicius, Egle Rakauskaite u. a.

Auch mit der litauischen Theaterkultur ist man zumindest in Osteuropa schon seit längerem vertraut. Schon zu Sowjetzeiten gab es in Litauen eine starke Theatertradition in Verbindung mit einer interessanten Regieschule, auch wenn der einzige Theater-Studiengang bis 1990 das Schauspiel blieb. Alle bekannten litauischen Regisseure der älteren Generation wie Jonas Vaitkus, Eimuntas Nekroius und Rimas Tuminas haben entweder in Moskau oder Leningrad studiert.

Eimuntas Nekroius und sein Werk zählen gegenwärtig in Europa zu den bekanntesten Vertretern der litauischen Kultur. Nekroius entschloss sich als Erster, seine Verbindungen zum staatlichen Theaterbetrieb zu kappen, und vertauschte den sicheren Sessel als erster Regisseur des staatlichen Jugendtheaters gegen den Status eines freischaffenden Künstlers. Er beteiligte sich fortan an der künstlerischen Gestaltung des Theaterfestivals LIFE. Einige Zeit später gründete er sein eigenes Theater Meno fortas, in dem er in den vergangenen Jahren Shakespeares Hamlet, Macbeth und Othello auf die Bühne brachte. Diese Inszenierungen stießen beim litauischen und internationalen Publikum auf großes Interesse und brachten dem Regisseur mehrere nationale und internationale Auszeichnungen ein, vom litauischen Nationalpreis bis zum renommierten UBU-Preis für Europäisches Theater. Nekroius arbeitet mit aussagekräftigen Bildmetaphern und ungewöhnlichen Besetzungen: Die Hauptrolle in seinem 1997 uraufgeführen Hamlet übernahm der bekannte litauische Popsänger Andrius Mamontovas, die Desdemona im 2000 uraufgeführten Othello wird von der litauischen Primaballerina Egle pokaite gespielt.

Auch der Name Oskaras Korunovas ist dem europäischen Theaterpublikum ein Begriff. Korunovas vertritt eine neue Generation von Regisseuren, deren Persönlichkeit sich in der Zeit des politischen und gesellschaftlichen Umbruchs herausbildete. Sein Handwerk erlernte er in dem 1989 zum ersten Mal in Litauen von Jonas Vaitkus organisierten Studiengang Dramaturgie der Musikakademie von Vilnius. Der Einstand Korunovas in der litauischen Theaterwelt war ziemlich spektakulär. Die von ihm 1990 inszenierten Stücke Dort hier sein und Die Alte der russischen Avantgardisten Daniel Charms und Alexander Wwedenskij zeichneten sich aus durch strenge Form und unerwarteten Erfindungsreichtum. Diese Inszenierungen öffneten Korunovas den Weg in die litauische Theaterwelt und zu internationalen Festivals.

Schon bald verspürte Korunovas, dessen Werk zuerst im litauischen Dramentheater aufgeführt wurde, das Bedürfnis nach einem eigenen Theater, das auch den Werken junger litauischer und westeuropäischer Schriftsteller Platz bieten sollte, so etwa dem des litauischen Schriftstellers Sigitas Parulskis, der auf der Bonner Biennale sein Stück P. S. Akte O. K. aufgeführt hat, sowie Roberto Zucco des Franzosen Bernard-Marie Koltès. Das Oskaras-Korunovas-Theater wurde 2000 gegründet und ist mittlerweile zu einem lebhaften und aktiven Vertreter einer neuen Theaterkultur geworden, durch dessen Initiative zahlreiche internationale Kontakte geknüpft wurden, zum Beispiel nach Avignon. Zwar inszeniert Korunovas auch klassische Stücke wie Shakespeares Sommernachtstraum und Bulgakows Der Meister und Margarita, die sich beim litauischen Publikum großer Beliebtheit erfreuen und mit denen er oft bei internationalen Festivals zu Gast ist. Bekannter ist das Theater allerdings für seine Aufführungen kontroverser moderner Theaterstücke, etwa Mark Ravenhills Shopping and Fucking oder Marius von Mayenburgs Feuergesicht und Parasiten.

Darüber hinaus kann man nicht über die zeitgenössische litauische Theaterszene schreiben, ohne das von Audronis Liuga geleitete Informations- und Ausbildungszentrum für Theater und Film zu erwähnen, das nun bereits seit drei Jahren jedes Frühjahr die Neue Theateraktion organisiert. Diese Veranstaltung ermöglicht es dem litauischen Fachpublikum, sich über die aktuellen Entwicklungen auf der europäischen Theaterszene auf dem Laufenden zu halten, und gibt ihm die Möglichkeit, zeitgenössische Theaterstücke selbst zu interpretieren.

Das litauische Musikleben spielt sich hingegen an traditionellen Orten ab: im Opern-und Balletttheater von Vilnius, in den Musiktheatern in Kaunas und Klaipeda, in der litauischen Philharmonie sowie im Rahmen internationaler Musikfestivals, von denen in Litauen jedes Jahr mehrere Dutzend stattfinden, sowohl in den großen Städten als auch in der Provinz. So wurde 2000 im Rahmen des Festivals von Vilnius mit Der Bär von Bronius Kutavicius (nach einer Novelle von Prosper Merimée) zum ersten Mal seit über zehn Jahren eine litauische Oper uraufgeführt. 2002 fand im gleichen Rahmen die Premiere des Balletts Acid City von Mindaugas Urbaitis statt.

Eine besondere Rolle bei der Förderung litauischer Musik kommt seit einigen Jahren dem Informationszentrum für Musik zu, das Informationen über litauische Komponisten und Interpreten sammelt und verbreitet und das sich um die Veröffentlichung und den internationalen Vertrieb von CDs litauischer Interpreten kümmert.

Auch die litauische Tanzszene hat in den letzten Jahren eine regelrechte Renaissance erlebt. Das Ensemble des Opern- und Balletttheaters, auch heute noch Heimat vieler talentierter Solisten, war lange Zeit das einzige professionelle Ensemble in Litauen. Die Situation begann sich zu ändern, als 1996 das Informationszentrum für Tanz gegründet wurde, das bereits seit mehreren Jahren Festivals für modernen Tanz organisiert, Workshops für modernen Tanz anbietet und die bislang noch nicht sehr zahlreichen Choreografen der neuen Generation unterstützt. Mithilfe dieses Zentrums wurden ferner unabhängige Tanztheater gegründet und gefördert, so das Ballett von Vilnius von Jurijus Smoriginas und das Tanztheater der jungen und engagierten Choereografin Anelika Cholina. Ihre Frauenlieder nach Marlene Dietrich und Liebe fanden durch ihre effektvolle Emotionalität, die einfallsreiche Regie sowie die gelungene Verbindung von Tanz und Schauspiel beim Publikum großen Anklang.

Das kulturelle Leben Litauens ist heute intensiv wie nie zuvor. Stark leiden Künstler und Kunstfreunde unter den Unvollkommenheiten der litauischen Gesetzgebung; man kritisiert die staatliche Kulturpolitik sowie das unzureichend funktionierende System der staatlichen und privaten Kulturförderung. Durch das schnelle Tempo der gesellschaftlichen Entwicklung bleiben talentierte Künstler, denen es allenfalls an kämpferischer Energie mangelt, auf der Strecke. Die schillernde litauische Kunstszene hat in den letzten zehn Jahren nicht nur positive, sondern auch negative Erfahrungen des modernen internationalen Kulturbetriebs aufgesogen. Künstlergruppen lösen sich auf, Galerien und Theater schließen und machen in schnellem Wechsel Platz für neue Künstler, Galerien, Theater - für neue Ideen. Diese Schnelllebigkeit ist vielleicht die wichtigste Besonderheit des zeitgenössischen litauischen Kulturlebens. (Von Helmutas Sabasevicius/DER STANDARD; Printausgabe, 05.10.2002)