Ein ausgebombter Familienvater in der irakischen Stadt Basra, der sich aus Österreich das Buch "Vom Winde verweht" wünscht. Eine Saudi-Arabierin in der Shoppingmall von Riad: Verschmitzt lächelt sie aus dem Sehschlitz ihres schwarzen Ganzkörperschleiers, der Abaya, und trägt einen Papiersack mit der Aufschrift "Lingerie" am Arm.Sowie Ibor, zwei Jahre alt, aus Sarajewo: In seinem Rucksack, so erzählt seine Mutter während des Bosnienkriegs der österreichischen Journalistin Livia Klingl, würden immer "Kekse, Fruchtsaft, 500 D-Mark und ein Foto von seinem Vater und von mir" stecken: "Damit er weiß, wer seine Eltern waren, wenn wir tot sind." Menschenbilder wie diese, Schilderungen des Alltäglichen inmitten von Ausnahmezuständen, machen das Besondere des vorliegenden Buches aus. Es vereint ausführliche Reportagen der einstigen STANDARD-Außenpolitikredakteurin und derzeitigen Kriegsberichterstatterin des Kurier aus Staaten und Krisengebieten vom Kaukasus bis zum Persischen Golf: mit viel Hintergrundwissen und der Kraft des Faktischen daherkommende Berichte aus den Jahren 1992 bis 2000. Die Stärke der Texte liegt aber auch in den abgedruckten Dialogen: Klingl gelingt es, das - in Dikaturen wie etwa dem Irak - Nichtgesagte, das - in verzweifelten Verteidigungssituationen wie einst in Sarajewo - Mitgemeinte zu transportieren. Unter anderem, weil sie der Leserschaft ihre Perspektive als Frau nicht unterschlägt: Etwa wenn sie beschreibt, wie sie sich in Riad selbst in die Abaya warf. Und so zu einem "Nichtgesicht" wurde, mit der Fähigkeit, Blicke sozusagen durch die Schleier zu werfen. (Irene Brickner/DER STANDARD, Printausgabe, 4.10.2002)