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Foto: Archiv
Fünf Mal am Tag schallt der Ruf des Muezzin von den Minaretten einer der drei Moscheen über den Ort und verhallt in den kargen Hügeln des Hinterlandes. Kaum jemand nimmt hier groß Notiz davon. Rund 5000 Einwohner zählt die unter den Lykiern Habesos, unter den Griechen Antiphellos genannten Stadt.

Die Lykier haben hier ihre Spuren in Form von Felsengräbern und Sarkophagen hinterlassen, die Griechen ein antikes Theater, dem das Meer einst als Kulisse diente. Ihre Kulturschätze reichen bis in die Zeit um 600 vor unserer Zeitrechnung zurück und zählen zu den Hauptattraktionen der Gegend.

Viele Menschen in Ka¸s verdienen ihr Geld mit dem Tourismus. Einer von ihnen ist Ümit, der seit zehn Jahren hier lebt. Er verkauft Silberschmuck in einem kleinen Geschäft im Zentrum. Ümit ist als Gastarbeiterkind in Deutschland geboren und aufgewachsen. Er spricht makelloses Deutsch. Als er in die Türkei "einwanderte", konnte er kaum Türkisch und hatte wenig Bezug zu Land und Kultur seiner Vorfahren. Doch Ka¸s, sagt er, war "sein Traum". Und so blieb er.

Den halben Tag verbringt er leicht gelangweilt inmitten kleiner Silberkostbarkeiten, verkauft ab und an ein paar Schmuckstücke an vorbeikommende Urlauber. Am frühen Nachmittag ist sein Arbeitstag zu Ende. Nach fünf Monaten Saison auch sein Arbeitsjahr.

Im Café Papillon sitzen Ümits Freunde Alp, Marcus, Bayram und Rifat bei Bier und Raki und schlagen die Zeit tot. Alle haben sie schon in Europa gelebt und doch Ka¸s zu ihrem Domizil erwählt. Was hier besticht, sind Ruhe und ein gemächlicher Lebensrhythmus, weitab von Stress, Hektik, Eile.

Dieses Lebensgefühl überträgt sich auch auf die Besucher und macht einen ganz besonderen Reiz aus. Das Papillon ist das Stammcafé vieler junger Leute hier, auch zahlreicher Urlauber. Es wird Tavla oder Schach gespielt, Zeitung gelesen, Neuigkeiten werden ausgetauscht, Freunde getroffen. Vormittags gibt es Frühstück zu klassischer Musik, abends Rockmusik und Alkohol zu erschwinglichen Preisen. So richtig gelebt wird ohnehin erst nachts. Wer sich in der Nachmittagshitze zum Strand quält, ist selbst Schuld und erntet nur ein mitleidiges Lächeln.

Oberflächlich betrachtet verlaufen die Tage ziemlich unspektakulär, denn es passiert - nichts. Niemand tut viel, keiner unternimmt etwas - man sitzt herum, redet, trinkt, spielt und lässt die Zeit verstreichen. Diese Langeweile ist ein regelrechtes Vergnügen. Die einzigen touristischen Attraktionen, die Ka¸s zu bieten hat, sind neben den Einkaufsmöglichkeiten Bootsausflüge und Paragliding-Angebote. Für 100 Euro werden Tandem-Sprünge vom Gipfel des höchsten Hügels bis hinunter zum Hafen angepriesen.

Keine McDonalds-Filiale weit und breit, keine Autobusse karren Menschenmassen herbei, keine Hotelburgen machen auf "All Inclusive", keine Verkäufer keilen um Kunden, niemand will ein Taxi, ein Zimmer, einen Teppich unbedingt und hartnäckig loswerden. In den Gassen, vor den Geschäften schlummern die Katzen träge vor sich hin. Keine Action. Keine Animateure. Keine Anstrengung.

Erst nachts kommt Leben auf: In den Bars am Hafen wird getanzt, geflirtet, getrunken. Am Strand sitzen Liebespärchen und solche, die es vielleicht werden, spazieren Familien mit ihren Kindern, schauen Touristen nach dem Mond und den Sternen. Emotionen löst eigentlich nur ein Thema aus: Fußball. Der Ort teilt sich in Anhänger von Fenerbahce und Fans von Galatasaray Istanbul (und eine Besiktas-Minderheit). Am Hafen zeigt ein Restaurant die Spiele auf einem kleinen Fernsehgerät. Davor sitzen etwa dreißig, vierzig Männer und feuern ihr Team an. In den Tanzlokalen rundherum zeigt man sich davon wenig beeindruckt. Geblieben wird bis Sperrstunde. Erst wenn die Gebete des Muezzin das erste Mal an diesem neuen Tag aus den Lautsprechern dröhnen, ist es an der Zeit, schlafen zu gehen. (Barbara Forstner/DER STANDARD, Printausgabe 10/2002)