Auf seine alten Tage wolle er nur noch Herzensprojekte realisieren, meinte kürzlich Steven Spielberg: Nach "Artificial Intelligence" ist nun "Minority Report" der zweite überzeugende Beleg für eine neue (düstere) Phase im Schaffen des erfolgreichsten US-Regisseurs.
Wien - Das nie zuvor Gesehene, Dargestellte, Dagewesene zeigen: eine der Konstanten im Werk von Steven Spielberg – egal, ob der US-Regisseur und Produzent die Jagd auf einen Weißen Hai eröffnete, mit dem Abenteurer Indiana Jones altertümliche Kulte entdeckte oder Außerirdische imaginierte. Selbst als er in Schindlers Liste eine höchst umstrittene Fahrt in die Gaskammern eines Konzentrationslagers antrat, war diese Faszination des "ersten Blicks" spürbar, wenn auch auf höchst irritierende Weise.
Für Spielberg war – wenn man seiner Biografie folgt – das Kino immer Flucht aus "normaler" Beengtheit: hinein ins imaginäre Nimmerland des Peter Pan. Auch deshalb, durchgängig in seinen Filmen: Ausflüchte in Bewegung, Design und Ton. Gleichzeitig: Animationen, Illusionen und Manipulationen, die so ein Eskapismus mit permanentem Griff in die Trickkiste als natürlich verkauft.
Der Polizist John Anderton (Tom Cruise), der Held von Spielbergs jüngstem Film Minority Report, ist insofern ein Geistesverwandter des Regisseurs, verlagert ins Washington des Jahres 2054. Vor Erinnerungen an familiäre Katastrophen flieht er am Abend in 3-D-Homemovies. Am Arbeitsplatz hingegen huldigt er mit den Gesten eines Dirigenten der Selektion und Montage von Bildern, die es eigentlich nicht gibt: Momentaufnahmen, die Morde in naher Zukunft vorwegnehmen.
Welche Zukunft?
Andertons Aufgabe ist es, diese Gewalttaten nicht eintreten zu lassen, indem er und sein Team in letzter Sekunde einschreiten – bis ihm ein Film zugespielt wird, in dem er selbst in einem Hotelzimmer einen Mann erschießt.
Von da an steht die Handlung, basierend auf einer Kurzgeschichte von Philip K. Dick (Blade Runner, Total Recall), ganz im Zeichen eines eigentlich unauflöslichen Konflikts. Wäre dieser Zukunftsfilm, den "Pre-Cogs" (Seherinnen, die wie Embryos in einer Art Fruchtwasser gelagert werden) liefern, zu "löschen", indem Anderton die Mordtat nicht begeht? Wie nahe kann sich wiederum Anderton an den angeblichen Schauplatz und den Zeitpunkt der Tat heranwagen, um festzustellen, ob das Orakel der Pre-Cogs nicht mehr ist als Manipulation durch einen totalitären Staatsapparat?
Wenn der "Film", den Anderton von sich als Täter montiert hat, nicht stimmt: Wie verhält es sich mit denen anderer "Mörder", die er vorher kaltgestellt hat? Und wenn er stimmt: Ist dann die ganze Flucht nicht sinnlos? Andererseits: Würde sich Anderton vorzeitig stellen – warum können dann die Pre-Cogs einen Mord voraussehen? Philip K. Dick hat solche paradoxe Überlagerungen von Wirklichkeitsmöglichkeiten in Texten wie UBIK immer wieder variiert – und Steven Spielberg kommt auf seinen Spuren dem Idol Stanley Kubrick noch näher als zuletzt in Artificial Intelligence.
Ging es damals um einen auf "Kindheit" und "Liebe" programmierten Androiden, der vermeintlich natürliche Gegebenheiten in Konstrukte verkehrte, so wird auch hier der "unschuldige", erste Blick zum (Erzähl-)Programm. Gewiss, der Film wartet mit spektakulären SciFi-Szenarios auf. Zusammengehalten werden diese aber durch Erinnerungen an die Vergangenheit wie an die Zukunft, die von Anderton immer wieder neu gelesen und interpretiert werden: Impressionen von Wasser etwa, das gegen einen Steg schwappt. Oder: In einem Freibad verschwindet Andertons Kind.
Pränatales Trauma
Wie überhaupt das Sujet von Flüssigkeiten, in denen man behaglich versinken oder aber ersticken kann (wie in der Flut der bewegten Bilder), symptomatisch ist für diesen Film.
Zweifach klingt etwa das Embryonen-Motiv an:
a) im Pool der Pre-Cogs, die ihren Visionen lebensunfähig, aber hellsichtig entgegendämmern;
b) als John Anderton das für Spielberg wohl ultimative Opfer bringen muss: Um den auf Pupillen eingestellten Sicherheitsdetektoren zu entgehen, opfert er seine Augen!
Und während bereits Elektrospinnen und andere Kontrollgerätschaften auf ihn angesetzt werden, liegt er in einer Wanne voll Eiswasser, hält (kurzfristig blind) den Atem an – und es wirkt wie eine böse Travestie auf ein Leben vor der Geburt, das in diesem Fall weniger beschützt ist als überwacht dem Ende zusteuert. Erkenntnis, eine Begleiterscheinung des Erkanntwerdens: Minority Report, Spielbergs bis dato reichhaltigster, komplexester Film, ist voll von solchen Momenten.
Was uns im Übrigen nicht davon abhalten soll, die großartigen Einzelleistungen in der Filmcrew zu würdigen: Janusz Kaminskis Kameraarbeit ist nichts weniger als meisterhaft. Max von Sydow (als Andertons undurchsichtiger Vorgesetzter), Colin Farrell (als sinistrer Kontrollagent eine Neuauflage von Tyrone Powers) und Samantha Morton deuten Neben- in Hauptrollen um.
Und Tom Cruise: Man kann bei ihm normalerweise viele Worte über mögliche Eitelkeiten und Ego-Probleme verlieren – obwohl: Welcher Hollywoodstar (abgesehen von Warren Beatty) hat sich jemals derart mutig sämtlichen Meisterregisseuren seiner Zeit – von Scorsese, Stone, Levinson, De Palma, Crowe, Woo bis Spielberg – zur Verfügung gestellt? Was er hier einmal mehr leistet, ist nichts weniger als State of the Art und gleichzeitig souveränstes traditionelles Genrehandwerk:
Ein Actionheld, ganz und gar körperlich im Tanz mit der Kamera und gleichzeitig perfekt als Projektionsfläche und Identifikationsfigur im – sprechen wir es gelassen aus – besten Film dieses Jahres. (DER STANDARD, Printausgabe, 2.10.2002)