Tony Judt, britischer Historiker: In der "New York Times" publiziert er oft überEuropa seit dem 2. Weltkrieg

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Der bekannte britische Historiker Tony Judt leitet das Remarque- Institut (benannt nach dem Schriftsteller Erich Maria Remarque) an der New York University, das den Dialog zwischen den USA und Europa aufrechterhalten soll. Hans Rauscher sprach mit ihm über die zunehmend unterschiedliche Weltsicht beider Seiten.
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STANDARD: Professor Judt, aus Ihrer Erfahrung in den USA: Wird der Irak-Krieg kommen? Judt: Früher oder später ja. Bush hat sich schon zu weit vorgewagt. STANDARD: Driften dadurch USA und Europa noch weiter auseinander? Judt: Unter praktisch allen vorhersehbaren Umständen werden die Europäer über diesen amerikanischen Krieg gegen den Irak unglücklich sein - obwohl es bei den meisten eine Menge Sympathien für die generellen Ziele dieses Kriegs gibt. Es liegt alles, wenn Sie so wollen, am Stil, an der Rhetorik und an dem Gefühl, das die Europäer haben, dass die amerikanische Regierung jetzt vollkommen uninteressiert an der europäischen Sichtweise ist. STANDARD: Zwei verschiedene Weltsichten. Judt: Die Amerikaner gehen davon aus, dass die Europäer in einem postmodernen Traum von Frieden und Wohlstand leben - und die Europäer gehen davon aus, dass die Amerikaner ihre Überlegenheit ausnutzen wollen, um das Universum im Namen von amerikanischen Werten und billigem Öl zu rekolonisieren. Beides sind Karikaturen, auch wenn ein bisschen Wahrheit in jeder steckt. Klar ist jedoch, dass die USA - selbst wenn sie tatsächlich nur das wollen, was sie sagen, nämlich den Irak zu befreien und die Quelle von Terrorattacken zu eliminieren - das nicht allein tun können. Sie können das nicht ohne die Europäer tun. Außerdem kann das größere Ziel, nämlich Stabilität, wenn schon nicht Demokratie im Irak, nicht durch Krieg allein erreicht werden. Das geht nur durch einen sehr langen Prozess der internen Stabilisierung, der jenes nicht militärische Engagement erfordert, das die USA heutzutage besonders schlecht können. STANDARD: Glauben Sie, das man Saddam unbedingt loswerden muss? Judt: Sind Saddam Hussein und sein Regime eine sehr gefährliche Angelegenheit? Ja gewiss, aber es gibt einen Haufen ähnlicher Diktatoren, manche in großen, manche in kleinen Ländern. Niemand hat uns einen Grund dafür gegeben, dass er jetzt gefährlicher ist als letztes Jahr. Und sicherlich ist es unwahrscheinlich, dass er im nächsten Jahr oder so etwas Gefährliches tut. Daher gibt es keinen Grund, dass man sich nicht die Zeit nehmen sollte, die es eben braucht, um eine internationale Koalition zu bilden, die dann ihrerseits das tut, was getan werden muss. Es gibt eine wirkliche Verwirrung in Washington, ob man die Bedrohung beseitigen will oder den Mann. Wenn man aber die Bedrohung beseitigen will, dann darf man den Mann nicht in eine Ecke drängen, wo er nichts mehr zu verlieren hat. STANDARD: Vor zwanzig Jahren sagte die Friedensbewegung die Apokalypse voraus, sollten die Pershing-Raketen aufgestellt werden. Ergebnis: Die Russen stimmten einem Abrüstungsvertrag zu. Dann waren alle entsetzt, als Reagan vom "Reich des Bösen" sprach - und siehe da, die Sowjetunion brach zusammen. Um des Arguments willen - warum soll man nicht versuchen, den Mittleren Osten, der nur aus Despotien besteht, zu demokratisieren? Judt: Der größte Widerstand gegen die Pershings kam aus Deutschland und England. Das größte Risiko dort waren relativ harmlose Proteste. Im Fall der Destabilisierung der Sowjetunion hatte Reagan einen sehr starken Alliierten, nämlich Gorbatschow. Außerdem existierten im Sowjetreich Eliten, die übernehmen konnten. Die meisten arabischen Länder haben nichts dergleichen, sie haben keine alternative zivile Gesellschaft, die die Diktatoren ersetzen könnte. Wenn daher die USA kommen und sagen: Wir werden die Welt neu erschaffen, und zwar nicht die relativ einfache europäische Welt, sondern die schwierige des Mittleren Ostens, vom Maghreb bis Indien; und wir werden sie im Namen von Demokratie, Marktwirtschaft und Menschenrechten neu erschaffen - das würde zehn Marshall-Pläne erfordern und US- Truppen, Enthusiasmus, Führerschaft. Ist das imperiale Überdehnung? Die Antwort ist Ja, und das amerikanische Volk will nicht dafür zahlen. Diese Hardliner in Washington, die sich als eiskalte Realisten präsentieren - im Gegensatz zu den "europäischen Waschlappen" -, sind die wahren Fantasten. STANDARD: Sind die USA ein Imperium? Judt: In gewisser Weise nein - es geht nicht um Kolonisierung; in gewisser Weise ja. Aber: Die USA sind viel, viel mehr angewiesen auf kleinere Alliierte als jedes andere Imperium in der Geschichte. Das heißt, die USA können nur Krieg führen oder damit drohen. Sie haben keine anderen Hebel - wegen der UN, Europa, wegen Russland und China. Das sind Begrenzungen, die die Römer oder das britische Imperium niemals kannten. STANDARD: Sie sind Engländer und lehren jetzt in den USA. Wie sehen Sie die verschiedenen Bewusstseinslagen? Judt: Die USA sind, gesehen im Rahmen der Globalisierung, ein bemerkenswert provinzielles Land. Sie wissen nicht, wie der Rest der Welt sie sieht - und sie realisieren nicht, wie unähnlich sie dem Rest der Welt sind. Sie glauben, dass der Rest der Welt so wie Amerika sein will. Dass das amerikanische Modell das Modell ist, von dem jeder träumt. Das amerikanische Gefühl für die Welt ist sehr stark das eigene der Amerikaner als Individualisten. Sie haben einen sehr unterentwickeltes Gefühl für Gesellschaft. Ihre Beziehung ist die eines Individuums gegenüber dem Markt und gegenüber den Institutionen. Sie denken von sich selbst nicht als ein Kollektiv, das seine Interessen gegenüber dem Staat vertritt - indem sie Steuern zahlen und bestimmte soziale Leistungen erhalten; sie erwarten sogar einen ärmlichen sozialen Rahmen - im Gegenzug dafür die Möglichkeit zu individuellem Wohlstand, individueller Verbesserung. Sie wollen keine eine kollektive soziale Welt, in der Staaten zusammenkommen und ihre nationale Macht für einen gemeinsamen Vorteil verringern. Sie wollen eine Welt, in der individuelle Akteure, die USA, ihr Selbstinteresse maximieren und eine gute Chance haben, ihre Bedingungen zu verbessern - auf Kosten anderer. Ich fürchte, dass der "american way of life" und der "european way of life" immer weiter auseinander driften. Die Amerikaner leben in einer Fantasiewelt, wo sie glauben, jeder will wie sie leben. Am Ende könnte das ein Ursprung für einen US-Niedergang sein. (DER STANDARD, Printausgabe, 2.10.2002)