Giuseppe Gracias Erzählung Kippzustand beginnt mit dem eher peripheren Ärgernis des sauren Weins der (fiktiven) schweizerischen Kleinstadt Furtnau, den sich der Erzähler zu trinken gezwungen sieht. An sich nichts Neues, schließlich meinte schon Dürrenmatt, Schweizer Wein gehöre in grüne, mit Totenschädel und gekreuzten Knochen versehene Giftflaschen abgefüllt. Doch der launige Anfang täuscht, sehr schnell geht es in diesem schmalen Band um Existenzielleres - und um größere Ärgernisse. Der Ich-Erzähler, ein in der Schweiz aufgewachsener Italiener, dessen Namen wir nicht erfahren, ist nach 15 Jahren für drei Tage zur Beerdigung seines Freundes Luca nach Furtnau zurückgekehrt, an den Ort also, an dem die beiden aufwuchsen, in die Stadt, aus der er, kaum volljährig, Hals über Kopf floh und in der sich Luca nun umgebracht hat. Solch eine Rückkehr gerät, man ahnt es, zu einer Reise in die Vergangenheit.Für die beiden im Vorortquartier aufwachsenden italienischen Freunde und ihre Eltern, die als "Gastarbeiter" in die Schweiz kamen, galten die Gesetze des "flexiblen Menschen" und der "Volatilität und Instabilität der Verhältnisse und Beziehungen" lange bevor sie amerikanische Soziologen zu beklagen begannen. So etwas prägt. Der Erzähler, später zum mehr oder weniger erfolgreichen Kommunikationsberater geworden, erinnert sich an diese Kindheit, an den Tod des Vaters, an die Heimweh-Sonntagnachmittage im Ausländerclub auch. Der Außenseiterblick schärfte das gesellschaftliche Bewusstsein der beiden Jugendlichen, schnell begriffen sie, dass "das System" denjenigen verschmäht, der es durchschaut. Ein System, dem der Erzähler zufällig in Form seines ehemaligen Chefs, der ihn wenige Tage vor der Abschlussprüfung wegen einer Bagatelle entließ, auf der Straße begegnet. Diesem Mann, der auf den schönen Namen Lämmle hört, folgt der Erzähler, um ihn drehen sich seine Gedanken und vielleicht, es sei hier nicht verraten, wird er ihn um einen Kopf kürzer machen. Zuerst aber redet sich der Rückkehrer so richtig ins Feuer, in einer Suada überschüttet er die angepassten "Systemvollstreckerköpfe", die "Prosecco-Moralisten", "Hagebutten-Alternativen" und "Gucci-Pazifisten" mit Hohn, Spott und Hass. Leider packt Gracia alles, und das ist immer zuviel, in diese 100 Seiten. Der Vater ist krebskrank, in der Nachbarschaft ereignet sich natürlich eine Familientragödie und so fort. Das ist schade, denn über das Kernthema, wie einer, der es nur scheinbar geschafft hat, eine durchökonomisierte Gesellschaft und das Gerangel um Macht und Geld mit heißer Wut beschreibt, hätte man gern mehr gelesen. Erstaunlich eigentlich, dass nicht mehr über dieses Thema geschrieben wird. Tom Wolfe versucht sich in A man in full daran, in weiterem Sinne auch Gaddis in JR, hingewiesen sei auch auf die deutschsprachigen Autoren Alfred Goubran mit seinem Pöbelkaiser und Georg M. Oswald mit Alles was zählt . Das ist eine gute Gesellschaft, in der sich der 35jährige Gracia, Sohn eines Sizilianers und einer Spanierin aus dem schweizerischen Sankt Gallen, befindet, und eine Talentprobe hat er mit dieser Erzählung allemal abgeliefert. ( Von Stefan Gmünder/DER STANDARD, Printausgabe, 28.09.2002)