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Im Rennen um die serbische Präsidentschaft hat der derzeitige Amtsinhaber Vojislav Kostunica die Nase knapp vorne.

Foto: EPA/ Sasa Stankovic
Zwei Tage vor der Präsidentenwahl ist eines gewiss: Der Kampf wird zwischen dem konservativen jugoslawischen Bundespräsidenten Kostunica und dem liberalen Vizepremier der Bundesregierung Labus entschieden. Und der derzeit amtierende Präsident Milan Milutinovic, ein Milosevic-Mann, wird seine Residenz in Belgrad für eine Gefängniszelle des Haager Tribunals für Kriegsverbrechen eintauschen. Elf Kandidaten stellen sich zur Wahl: Zwei Exgeneräle, zwei Kandidaten der Splitterparteien der Milosevic-Sozialisten, zwei unabhängige Kandidaten und der frühere Oppositionsführer, Vuk Draskovic, der es noch einmal wissen möchte. Doch neben den zwei Spitzenkandidaten können laut Meinungsumfragen nur die zwei Ultranationalisten, Vojislav Seselj, Führer der Radikalen Partei (SRS), und Borisav Pelevic, Vorsitzender der Partei der Serbischen Einigkeit (SSJ), auf ein gutes Resultat rechnen. Seselj ist bekannt für seine Drohung, Kroaten "die Augen mit einem verrosteten Löffel" ausstechen zu wollen und Pelevic war die rechte Hand des ermordeten berüchtigten Freischärlerkommandanten, Zeljko Raznatovic Arkan. In dem politisch unstabilen Serbien betrachtet man die Präsidentenwahl als eine Art Kraftprobe für bevorstehende Auseinandersetzungen. Neben Labus gehören alle halbwegs seriösen Präsidentenkandidaten dem nationalistischen Block an, und so kann der "moderate Nationalist" Kostunica bei einer eventuellen zweiten Runde auf einen sicheren Wahlsieg rechnen. Die unmittelbare Folge der Präsidentenwahl ist das endgültige Auseinanderfallen der in Serbien regierenden Koalition DOS, die vor genau zwei Jahren die Wende gegen das Regime Milosevic vollbracht hat. Auch bürgerliche Parteien wie das Demokratische Zentrum und die Reformisten der Vojvodina sowie das Neue Serbien und die Neue Demokratie haben sich im serbischen Machtkampf offen auf die Seite von Kostunica gestellt und die Parlamentsmehrheit von Premier Zoran Djindjic und seiner Reformregierung ernsthaft bedroht. Sie werfen Djindjic vor, mit "absolutistischen Machtmethoden à la Milosevic" zu regieren, Gesetze und Verfassung zu missachten, und fordern vorgezogene Parlamentswahlen, weil die DOS als eine Koalition von achtzehn Parteien an die Macht gekommen sei und Djindjic sich das Recht genommen habe, über die Mandate aller Parteien zu verfügen. Der Machtkampf Der Machtkampf lähmt die Reformen, und die vielen ungelösten Probleme führen dazu, dass viele Bürger die Präsidentenwahl als eine existenzielle Frage für Serbien betrachten und im Präsidenten ihren "Erlöser" suchen:
  • Die soziale Not ist bedrückend, mehr als eine Million Arbeitslose und fast eine Million Flüchtlinge sehen keine Hoffnung.
  • Die Reform der Justiz, Armee, Polizei und des Schulwesens lässt auf sich warten.
  • Die Zukunft von Serbien und Montenegro und der Status des Kosovo sind ungewiss; es gibt keine Vision für den zukünftigen Status der Vojvodina und des von Bosniaken bewohnten Sandschak und für ein Modell der Dezentralisierung Serbiens.
  • Der feierlich angesagte Kampf gegen das organisierte Verbrechen hat bisher kläglich versagt; wegen der unstabilen Lage im Land sind größere Auslandsinvestitionen ausgeblieben. Besonders besorgniserregend ist, dass während der Wahlkampagne wieder nackte Gewalt an die Oberfläche gekommen ist. Mehrere Aktivisten, die Wahlplakate von Labus verteilt haben, wurden windelweich geprügelt, die Sprache des Hasses, der ethnischen, konfessionellen und politischen Intoleranz hat sich erneut im Alltagsleben und in Medien eingebürgert.
Wieder einmal steht Serbien vor einem Wendepunkt.(DER STANDARD, Printausgabe, 27.9.2002)