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Madame hat gesprochen: Sylvane Agacinski, Philosophin und Frau des früheren französischen Premiers, Lionel Jospin, rechnet in einem "Tagebuch" über die Wahlniederlage im verganenen April mit dem linken Flügel der Sozialisten ab - der sei ihrem Mann in den Rücken gefallen.

Foto: REUTERS/Charles Platiau
Die französische Linke ist "kindisch", Staatschef Jacques Chirac "populistisch und zynisch"; die Journalisten sind "pervers", und die "unbekümmerten Wähler" haben mit "verbundenen Augen" abgestimmt. Ein solch herber Rundschlag stammt aus einer feinen Feder: Die bekannte Philosophin Sylviane Agacinski, nebenbei Gattin von Ex-Premierminister Lionel Jospin, macht in einem am heutigen Freitag erscheinenden "Unterbrochenem Tagebuch" so ziemlich die ganze Welt verantwortlich für die Überraschung der Präsidentschaftswahlen im Frühling, als sich Jacques Chirac und Jean-Marie Le Pen für die präsidiale Stichwahl qualifizierten. "Alle schuldig - außer er", kommentiert Libération ironisch. Kritik ist tabu "Er", das ist natürlich Lionel Jospin, der noch am Wahlabend des 21. April aschfahl vor die Kameras getreten war und brüsk seinen Rücktritt aus der Politik erklärte. Die Linke, bereits am Boden, war damit vollständig k.o. Aber Jospin bleibt bei seinem trotzigen Schweigen. Eine vernünftige Debatte über die persönliche oder gemeinsame Verantwortung für das sozialistische Wahldebakel war damit bis heute nicht möglich. Kritik an Jospin ist tabu. Doch an der Parteibasis gärt es weiter, und Jospin kann sich wohl nicht ewig in seiner Pariser Wohnung verbarrikadieren. Die Buchveröffentlichung seiner Ehefrau wird deshalb als erster vorsichtiger Schritt zu seinem viel erwarteten "Outing" betrachtet. Parteiintern wird der Beitrag des einfachen Parteimitglieds Sylviane trotz der harschen Töne im Buch als Beitrag zur "sozialistischen Trauerarbeit" begrüßt. Sozialistenchef François Hollande spekulierte, dass Jospin bald selber das Wort ergreifen dürfte. Es ist auch Zeit. Seit den verlorenen Präsidentschafts-und Parlamentswahlen schlingert das sozialistische Parteischiff gefährlich. Auch intern stehen die Zeichen auf Sturm. Der linke Parteiflügel, "la gauche socialiste", ist bereits auseinander gefallen; gleichzeitig machen seine Vertreter die "Liberalen" und - noch schlimmer - die "Blairisten" wie Exminister wie Laurent Fabius und Dominique Strauss-Kahn dafür verantwortlich, dass die Arbeiter und Arbeitslosen nicht mehr links, sondern für Le Pen gestimmt haben. Hollande versucht verzweifelt, in dem Durcheinander eine "Mehrheitslinie" zu schaffen, damit der nächste Kongress im Frühling 2003 nicht ausartet. Doch ob sich dieser "Mainstream" pragmatisch nach der Macht oder radikaler nach den Ideen zu richten hat, weiß auch Hollande nicht. Dazu kommt sein Führungsproblem: Hollande ist vielleicht eine gute Integrations-, aber sicher keine Leaderfigur. Ideologisch herrscht in der Partei nun die Leere. Ihre Exponenten machen sich auf Ideensuche - Strauss-Kahn bei New Labours Policy Network in London und die Ex-arbeitsministerin Martine Aubry beim Kolloquium mit Starintellektuellen. Der frühere Finanzminister Fabius aber zieht im Land umher, um "den Puls des Volkes zu fühlen" - wie einst Chirac.(DER STANDARD, Printgausgabe, 27.9.2002)