"Deutschland hat entschieden. Welche Folgen für Europa?" war das Thema des Montagsgesprächs von der STANDARD und Radio Wien im Haus der Musik. Berlin liegt ganz im Trend, lautete das Fazit: Außenpolitische Interessenpolitik und Verlust der politischen Kultur gelten mittlerweile überall in der EU.
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Wien - Wirkliche Begeisterung löst die Neuauflage der rot-grünen Koalition in Berlin nicht aus. Bewunderung vielleicht wie nach einem knappen Tennismatch, weil die Wahlnacht so lang und der Einsatz, mit dem Gerhard Schröder und sein Außenminister die Stimmung in den letzten Wochen herumrissen, so groß war. Doch sonst liegt über der kommenden deutschen Regierung der Schatten der Krise. "Ich hätte diesen Sommer keinen Euro auf den Verbleib des Kanzlers gewettet", meinte der Soziologe Rainer Münz stellvertretend für die anderen Diskutanten im Haus der Musik. Berlin - Paris

Die Folgen von Schröders Wahlsieg für Europa lassen sich an den außenpolitischen und wirtschaftlichen Problemen der Deutschen durchdeklinieren. Da ist zunächst einmal das deutsch-französische Verhältnis. Anne-Marie Le Gloannec, Deutschlandkennerin und derzeit am Marc-Bloch-Zentrum in Berlin tätig, beklagt vor allem das Fehlen einer europäischen Vision. "Der gemeinsame Wille ist nicht da, nicht bei Chirac, nicht bei Schröder", sagte sie. Dem Kanzler gehe es in der Europapolitik nur um "return on investment", um rasche Gegenleistungen für Zugeständnisse an den europäischen Integrationsprozess. Doch Le Gloannec sieht darin einen Trend: "Wir sind in Europa jetzt von Politikern umgeben, die kurzfristige Interessen vertreten." Zu Berlins Schwierigkeiten mit Paris kommt die Krise mit Washington wegen des möglichen Irak-Krieges - ein "Tabubruch" im Verhältnis der Deutschen zu Amerika, der nur schwer wieder zu kitten sei, meinte Lorenz Fritz, Generalsekretär der Industriellenvereinigung. Schröder habe endlich den Machtanspruch Deutschlands in Europa angemeldet. Ob dies auch zum Prozess der "Normalisierung" Deutschlands gehöre, blieb strittig. Unter dem Beifall des Publikums stellte Münz jedoch fest: "Wenn die Amerikaner unilateral sind, finden sie das gut. Wenn die Deutschen unilateral sind, ist das für die Amerikaner eine Frechheit." Wirtschaftlich gesehen steht Schröders kommende Regierung ohnehin im Zeichen der Krise. "Deutschland ist der kranke Mann Europas geworden", zitierte Fritz ein Urteil des britischen Economist. Schuld daran seien aber nicht die vier Jahre rot-grüne Koalition, meinte der Generalsekretär der Industriellenvereinigung, "das ist ein Erbe der Regierung Kohl". Schröder habe sehr wohl eine Wende versucht und den Sparkurs eingeleitet, doch die Reformen waren halbherzig. Die Frage sei nun, so meinte Fritz, ob Schröder diese Wende in seiner zweiten Amtszeit schaffe. Bessere Schauspieler

Das Unbehagen am Sieg der rot-grünen Koalition reicht in Wahrheit aber tiefer als außenpolitische Verstimmungen und schlechte Konjunkturzahlen: Es war ein Sieg der besseren Schauspieler, des zugkräftigeren Images, so lautete übereinstimmend der Befund beim Montagsgespräch. Man brauche die Kunst eigentlich nicht mehr, "das Theater findet auf einer anderen Ebene statt", meinte Elisabeth Schweeger, selbst Intendantin des Schauspiel Frankfurt. Die Haltungsnoten, die im deutschen Wahlkampf unentwegt verteilt wurden - Stoiber hölzern, Schröder sympathischer - haben die zweite rot-grüne Bundesregierung offenbar nun selbst abgewertet, noch bevor sie angetreten ist. Kür ging vor Inhalt. "Man müsste wieder Vertrauen in die politische Kultur gewinnen", sagte Schweeger und erntete damit den Applaus der Zuhörer. Berlins Regierende pflegen dabei eine recht zweideutige Haltung: Geht es um das politische Geschäft, nutzen sie die Kultur aus; geht es um die öffentliche Kultur selbst - Theater oder Museen -, setzen sie gnadenlos den Rotstift an. "Vom politischen Klima her sind wir für Rot-Grün gewesen", erklärte Schweeger, doch die Kultur habe in den deutschen Bundesländern immer dann eine Chance, wenn dort Konservative regierten. Union blockiert

Wie lange aber wird sich Rot-Grün angesichts der knappen Mehrheitsverhältnisse an der Macht halten? Anne-Marie Le Gloannec sah eher eine Dauerblockade der Koalition im Unions-regierten Bundesrat als ihren vorzeitigen Sturz im Bundestag. Rainer Münz mochte auch diese Gefahr nicht erkennen. Nur jemand, der ohnehin mit Großkoalitionen im Hinterkopf lebt - der Österreicher - und glaubt, dass man für Reformen eine Mehrheit von 90 Prozent brauche, könnte in Schröders rot-grüner Koalition eine Regierung auf Abruf sehen, meinte Münz. "Knappe Koalitionen sind reformfreudiger." (Markus Bernath/DER STANDARD, Printausgabe, 25.9.2002)